Der Ferrari Purosangue im ersten Fahrbericht mit Video-Review.
So geht Völkerverständigung, auch über Sprachbarrieren hinaus. Es ist ein früher Morgen in den Dolomiten, langsam lichten sich Nebel und Tauschleier. Am Rande einer noch leeren Parkfläche im Wintersportgebiet machen wir halt, wollen ein paar Fotos schießen und Videoaufnahmen starten.
Der Ferrari Purosangue im Video
Daraus wird erst einmal nichts. Es kommt ein Kleinbus angerauscht. Die Fahrerin springt heraus, ganz aufgeregt. „Belissima“, „Bella Macchina“, das Wort „Emozioni“ mit den verschiedensten Adjektiven und andere Freudenausrufe sprudeln aus ihr heraus. Auch wir, die wir nicht wirklich fließend italienisch sprechen, merken sofort: Die Dame ist in den Testwagen verliebt. Nicht nur sie. Ein Skibus hält, vollbesetzt. Das stört den Fahrer nicht. Auch er steigt aus, die Geschichte von eben wiederholt sich.
Austicken in der Gruppe
Am Ende stehen, weil auch die Fahrgäste des Busses aussteigen und Autos halten, ziemlich viele Menschen um uns herum. Wollen mal gucken, schießen Selfies. Dann müssen wir aber doch mal arbeiten, wollen weiter. Mitnehmen können wir leider niemanden nein. Da würde auch das Geschrei groß werden. Denn das Auto, dass hier den Adrenalinspiegel gruppendynamisch ansteigen lässt, hat nur vier Sitze. Es ist der Ferrari Purosangue.
Nein, der erste Viersitzer der Sportwagenmarke ist er nicht. Aber sehr wohl der erste Ferrari mit vier Türen. Und die haben es in sich. Während Fahrer und Beifahrer wie gewohnt einsteigen, sich aber über einen mit 63 Grad größeren Öffnungswinkel der Türen freuen können als bei anderen Ferraris, steigen die Fondpassagiere über hinten angeschlagene Portale ein. Die Türen öffnen in einem Winkel von 79 Grad, angespornt durch den Zur an einer kleinen Finne auf Höhe der Gürtellinie.
Transaxle-Bauweise
Viel Hirnschmalz der Entwickler steckt hier drin. Ein kurzer Zug reicht, um die Türe elektrisch zu entriegeln, dann kann man sie manuell öffnen und schließen. Oder man zieht etwas länger, dann gelingt der Vorgang in beide Richtungen elektrisch. Schnell und zuverlässig, deutlich praxistauglicher als die jüngst im neuen BMW 7er gezeigten Automatiktüren.
Auf B-Säulen hat Ferrari im Purosangue trotz des Türkonzepts nicht verzichtet, die Steifigkeit der Karosserie geht vor. Dem Ein- und Ausstieg schadet das nicht. Im Fond stehen zwei elektrisch verstellbare Sport-Einzelsitze bereit. Als Fünfsitzer gibt es den Purosangue nicht, da hier hinten mittig die Transaxle-Bauweise das Achtgang-Doppelkupplungsgetriebe beheimatet.
Viel Platz im Ferrari-Fond
In der zweiten Reihe bietet der immerhin 4,97 Meter lange Ferrari-Viertürer überraschend viel Platz. Der 1,92 Meter große Autor kann bequem sitzen, auch hinter einem weit zurückgefahrenen vorderen Gestühl. Füße und Knie haben ordentlich Spielraum, die Kopffreiheit unter dem optionalen Glasdach (Serie: Kohlefaser) reicht gerade so. Trotz einem üppigen Radstand von 3,02 Metern waren derart großzügige Platzverhältnisse nicht zu erwarten, da die Technik mit Front-Mittelmotor ihren Raum beansprucht. Doch dazu kommen wir gleich.
Raum für Koffer und Co.
Zuerst kümmern wir uns um das Abteil im Heck. 473 Liter fasst der Kofferraum hinter der elektrischen Klappe. Seine Abdeckung und ein Raumteiler lassen sich entfernen und im Fach unter dem herausnehmbaren Ladeboden verstauen. Beides muss der Ferrari-Eigner händisch erledigen. Wer jetzt die Lehnen der beiden Einzelsitze elektrisch nach vorne klappt, kann auch üppiges Golfbesteck transportieren.
Bei allem praktischen Nutzen des Ferrari Purosangue: Bitte nicht gleich übertreiben und nach einer Anhängerkupplung fragen! Skier und Fahrräder können aber trotzdem transportiert werden. Spezielle Halterungen für die Heckklappe erlauben die Mitnahme von vier Paar Ski und zwei Rädern.
Displays für Fahrer und Co-Pilot
Beginnen wir die finale Phase des Vorspiels, es geht auf den Fahrersitz. Hinter dem Lenkrad, dessen einzige physische Bedienelemente die Blinkerschalter und der „Manettino“ genannte Drehregler für den Fahrmodus sind, blickt man auf digitale Instrumente.
Neben allen fahrrelevanten Informationen kann man sich hier auch die Inhalte der Smartphone-Integration (heute: Apple CarPlay) anzeigen lassen. Das gilt auch für das zweite Display vor dem Beifahrer. Er kann sich unterwegs um das Entertainmentprogramm kümmern oder sich von den Anzeigen für Geschwindigkeit, Drehzahl und Co. beeindrucken lassen.
Ein großes Mitteldisplay fehlt. Im Zentrum des Cockpits wartet ein satt rastender Drehkranz mit kleinem Touchscreen darauf, Wünsche nach Sitzheizung, -lüftung oder Massage entgegenzunehmen. Auch ein fest installiertes Navigationssystem gibt es nicht. Die Ferrari-Ingenieure sind selbstbewusst genug, zu erkennen, dass die Routenführungs-Apps von Google, Apple und Co. ihnen stets einen Schritt voraus sind.
Der V12 erwacht
Ein bisschen profan wirkt, das ist bei sämtlichen Ferrari-Modellen in letzter Zeit so, die virtuelle Schaltfläche für den Motorstart im Lenkrad. Hier würde ein schöner Knopf dem Antrieb mehr Respekt zollen. Den hat sich die Maschine auch verdient.
Wird auf das Lenkrad getoucht, setzt sich der 6,5 Liter große V12-Sauger in Szene. Dabei brüllt er weniger laut auf, als erwartet. Das freut Nachbarn und EU-Regulatoren. Gleichzeitig verliert der Ferrari aber auch direkt beim Motorstart kein bisschen seiner Emotion.
In seinen Grundzügen ist der Zwölfzylinder aus den Modellen Ferrari 812 Superfast und Competizione bekannt, wurde für den Einsatz im Purosangue aber umfangreich überarbeitet. Während es im auf Rennstreckeneinsatz ausgelegten Supersportwagen auf hohe Drehzahlen und eine entsprechend langsam ansteigende Drehmomentkurve ankommt, stehen beim Viertürer die Attribute eines GT-Reisewagens im Fokus.
Neue Abstimmung für den Reise-Ferrari
Was heißt das? Saugertypisch liegt das maximale Drehmoment von 716 Newtonmetern recht spät an, nämlich bei 6.250 U/min. Schon bei 4.300 U/min versammeln sich aber die meisten davon (650 Newtonmeter) am Gaspedal und bleiben dort bis 7.750 U/min. 533 kW bzw. 725 PS lassen sich aus dem V12 herausholen.
Weniger überraschend als der Innenraum: Es bedarf nur kleiner Zuckungen am rechten Fuß auf dem Gaspedal, um Horizonte zu verschieben. Das verdeutlichen auch die technischen Daten: In nur 3,3 Sekunden schnalzt der etwa 2,1 Tonnen schwere Ferrari Purosangue aus dem Stand auf 100 km/h, bis Tempo 200 vergehen 10,6 Sekunden. Die Höchstgeschwindigkeit ist bei 310 km/h erreicht, nach Aussage der Entwickler könnten es aber auch ein paar mehr sein.
High-Tech-Fahrwerk
Wir schrauben uns über verwinkelte Serpentinen die Berge hoch. Viel Humor müssen die Planner gehabt haben, auf diesen Straßen Tempo 90 zu erlauben. Oder den Ferrari Purosangue im Hinterkopf. Denn schon dieses Tempo reicht, um das querdynamische Potenzial des Autos auf leerer Piste zu erfahren.
Im Fahrwerk steckt High-Tech pur. Obwohl der Purosangue kein Mildhybrid ist, trägt er nämlich ein 48-Volt-Bordnetz mit sich herum. Das wird für die Steuerung der aktiven Dämpfer benötigt, „Ferrari Active Suspension Technology“ genannt. In Millisekunden reagiert das System auf den Fahrzustand.
In schnellen Kurven wird dem Eintauchen des äußeren Vorderrads beispielsweise mit dem Absenken der entgegengesetzten Fahrzeugseite entgegengewirkt. Bis zu vier Zentimeter in jede Richtung (oben und unten) sind möglich. Die vier Elektromotoren erbringen also, vor allem wenn man das hohe Gewicht des Purosangue bedenkt, pausenlos Höchstleistung. Das Ergebnis: Der Purosangue liegt wie ein Brett, schnupft eine Kurve nach der anderen. Dabei mimt er nicht den harten Burschen, denn die aktive Dämpfung kümmert sich selbstredend auch darum.
Allradantrieb und -lenkung
Eine fast ausgewogene Gewichtsverteilung (49 Prozent vorne, 51 hinten), Allradlenkung und Torque Vectoring (Drehmomentverteilung) kümmern sich zudem um perfekten Vortrieb. Außerdem ist ein variabler Allradantrieb an Bord. Je nach Bedarf schickt das System über ein eigenes, zweites Getriebe, Kraft auch an die Vorderräder. Wie die Federung soll auch der Allradantrieb deutlich schneller reagieren als passive Systeme.
In den beiden schärften Manettino-Stellungen kann man die Dämpferabstimmung per Tastendruck in die härteste Stufe schicken, in den anderen Fahrmodi bleibt die Wahl zwischen „Mid“ und „Soft“. So lässt es sich mit dem Ferrari Purosangue entspannt reisen.
…und dieser Klang!
Auch dabei zieht er eine satte Klangschleppe hinter sich her, komponiert vom großvolumigen V12 und abgemischt von der klappengesteuerten Abgasanlage mit vier armdicken Endrohren. Der Sound ist feinsinnig portioniert. Stets präsent (innen und außen), aber selten vorlaut.
Verwundert es bei diesem Auftritt, dass der Ferrari Purosangue kein Kostverächter ist? Hochoktaniges nimmt er gern, und dann viel. 17,3 Liter auf 100 Kilometer werden nach WLTP-Norm angegeben, fix bewegt dürften es deutlich über 20 Liter werden.
Teuer, ausverkauft
Abgehobener als das aerodynamisch perfektionierte Auto auf dem Asphalt sind, das war nicht anders zu erwarten, die Preisforderungen. Das neue Topmodell von Ferrari kostet in der Grundausstattung beinahe 380.000 Euro. Auch dann gibt es noch Spielraum für Optionen, die markentypisch auf einer Tafel im Kofferraum verewigt werden.
Karbonelemente an Schwellern und Spiegeln, spezielle Felgendesigns, Sitzmassage und das sich auf Tastendruck verdunkelnde Glasdach sind nur einige Beispiele. Auch Lederbezüge kosten extra. Ab Werk kleiden sich Sitze und Innenraumverkleidungen in Alcantara, das im Purosangue erstmals zu großen Teilen aus Recycling-Material besteht.
Aktuell dürfte es schwierig sein, vom Ferrari-Händler bei geäußertem Kaufwunsch ein freundliches Nicken zu bekommen. Der Purosangue ist schon auf längere Zeit ausverkauft, im Moment wurde vom Werk ein Bestellstopp verhängt. Die Produktion des Viertürers wird nicht auf starre Zahlen limitiert, sie soll jedoch nie mehr als 20 Prozent der gesamten Fertigungsmenge in Maranello übersteigen.
Fazit
Es fällt schwer, vor dem Ferrari Purosangue nicht auf die Knie zu fallen. Er bietet nicht nur die Fahrleistungen eines Supersportwagens und ein High-Tech-Fahrwerk, sondern auch überraschend viel Alltagsnutzen mit viel Platz im Fond und praktischen Portaltüren.
Ferraris erstes SUV ist der Purosangue aber nicht. Ganz einfach deswegen, weil er trotz Lift-Funktion des Fahrwerks (von 18,5 auf 21,5 Zentimeter Bodenfreiheit) schlicht und einfach kein Vertreter dieser Gattung ist. Auch kein Sportwagen auf Stelzen. Vielmehr der erste seiner Art.
Technische Daten
Ferrari Purosangue |
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Antrieb | Allradantrieb |
Hubraum | 6.496 ccm |
Anzahl und Bauform Zylinder | V12 |
Maximale Leistung kW / PS | 533 kW / 725 PS bei 7.750 U/min |
Max. Drehmoment | 716 Nm bei 6.250 U/min |
Getriebe | 8-Gang-Doppelkupplungsgetriebe |
Tankinhalt | 100 Liter |
Beschleuningung 0-100 km/h | 3,3 Sekunden |
Höchstgeschwindigkeit | 310 km/h |
Norm-Verbrauch auf 100km | 17,3 Liter |
Leergewicht | 2.033 kg |
Länge / Breite / Höhe | 4.973 / 2.028 / 1.589 mm |
Grundpreis | 378.873 Euro |