Autoindustrie im Wandel China – Gefahr oder Chance?

Interview mit Marcus Willand, Partner bei der Management- und IT-Beratung MHP.

Die Messe IAA Mobility, die im September in München stattfand, zeigte einmal mehr die neue Ordnung im globalen Automobilmarkt. Vor allem chinesische Hersteller nutzten die Bühne der Messe, um sich potenziellen Kunden und der Branche zu präsentieren.

Das Interview im Video

Den wohl größten Messestand auf dem für das Fachpublikum bestimmten „Summit“ auf dem Messegelände hatte BYD. Auch XPeng, Dongfeng, Leapmotor, Maxus und MG waren vertreten. Das Start-up Avatr feierte auf dem „Open Space“ in der Innenstadt die Weltpremiere eines neuen Modells.
Design und Technik vieler Autos aus China erfüllen längst die Ansprüche von Kunden auf der ganzen Welt. Die Zeit der Lizenzbauten ist vorbei, zudem entstehen Marken und Modelle nicht mehr nur in Kooperationen und Joint Ventures mit westlichen Konzernen.

Neue Konkurrenz aus China

Das sorgt auch für ein Umdenken in der Automobilbranche. „Lange Zeit wurden die Bemühungen der chinesischen Autobauer belächelt“, erinnert sich Marcus Willand, Partner der auf die Mobilitätsbranche und Fertigungs-spezialisierten Digital- und Managementberatung MHP. „Das ist nicht mehr der Fall. Mittlerweile werden die Chinesen auch seitens der etablierten Hersteller als ernstzunehmende Wettbewerber wahrgenommen.“
Die Hierarchie mit Kooperationspartnern vor Ort scheint sich zu verschieben. SAIC (Shanghai Automotive Industry Corporation), bei uns mit den Marken MG und Maxus aktiv, baut seit vielen Jahrzehnten Autos in einem Joint Venture mit dem Volkswagen-Konzern. Um dem schnellen Tempo bei der Entwicklung neuer Elektroautos Herr zu werden, wird die Premiummarke Audi eine Plattform von SAIC für eigene Modelle nutzen. Die Konzernmutter ist mit einer Beteiligung bei XPeng eingestiegen. Leapmotor verhandelt, Gerüchten zufolge, nicht nur mit Volkswagen, sondern auch mit Stellantis über einen Technologietransfer.

Fokus auf digitale Angebote

MHP Interview Marcus Willand China Autos Sotware

Während klassische Autohersteller mit gewachsenen Strukturen teils lange Entwicklungszyklen haben, wirken die neuen Anbieter aus China agiler. „Aufgrund der staatlichen Förderung von Elektroautos sind in China viele neue Hersteller entstanden, die ihre Entwicklungsabteilungen und Werke auf der grünen Wiese hochgezogen haben“, führt Marcus Willand aus. „Die jungen Unternehmen sind schneller bei der Entwicklung, vor allem von Softwaresystemen. Ein großer Vorteil, da das digitale Nutzererlebnis für Autokäufer weltweit immer wichtiger wird.“

Die Berater haben für eine neue Studie zum softwaredefinierten Fahrzeug 5.000 potenzielle Autokäufer weltweit befragt. Die Auswertungen haben ergeben, dass das Infotainmentsystem und die Vernetzung des Autos bei der Kaufentscheidung immer wichtiger werden. Gleichzeitig stehen klassische Eigenschaften wie eine gute Qualitätsanmutung und weitere fahrdynamische Komponenten, wie beispielsweise Lenk-, Fahr- und Bremsverhalten eines Autos, auch weiterhin hoch im Kurs. Nicht nur bei Kunden in Europa und in den USA, sondern auch in China. Die Entwicklung neuer Autos muss also sowohl bei der Hardware, also auch bei der Software, auf diese Bedürfnisse reagieren. „Einige Marken sagen von sich, in erster Linie ein Software-Hersteller zu sein, der mit dem Auto ein Smart Device auf Rädern anbietet“, erzählt der Experte.

In einigen Fällen hapert es dann aber doch nicht an der Integration der Bits und Bytes im Fahrzeug. Auch AUTONOTIZEN musste bei Testfahrten feststellen, dass beispielweise die Assistenzsystem bei Nio (noch) nicht so funktionieren, wie man es erwartet. Auch Tesla, der stärkste Disruptor der Branche, muss hier noch nachsitzen. Das vollmundig „Autopilot“ genannte System kann nicht wirklich mehr als andere Assistenten. In Deutschland hat mit BMW ein klassischer Hersteller zuerst die Zulassung für einen Autobahn-Assistenten erhalten. Bis zu einer Geschwindigkeit von 130 km/h kann man im neuen 5er einen vom Auto vorgeschlagenen Spurwechsel mit Blick in den Außenspiegel initiieren. Die Hände können dauerhaft vom Lenkrad genommen werden, jedoch muss der Fahrer stets auf die Straße schauen und darf sich nicht ablenken lassen.

BMW setzt auf ein eigenes Betriebssystem für seine Fahrzeugsoftware, ebenso Volkswagen. Dort geht die Entwicklung in der eigens gegründeten Tochterfirma Cariad schleppender voran als geplant. Andere Marken setzen auf Tech-Größen wie Google. Das Betriebssystem Android Automotive kommt in neuen Modellen von Renault sowie bei den Geely-Töchtern Polestar und Volvo zum Einsatz. Trotzdem wirkt das Infotainmentsystem in diesen Autos nicht austauschbar.

Software definiert das Auto

MHP Interview Marcus Willand China Autos Sotware

Auch diese Entwicklung beobachten Marcus Willand und seine Kollegen: „Am Anfang hatten die Hersteller den Plan, ein eigenes OS (Operating System, Betriebssystem, Anm. d. V.) zu bauen – auch um keine Daten aus der Hand zu geben. Heute wissen wir: Das OS ist nicht das entscheidende Kriterium, sondern die Integration der Software und die Personalisierung.“

Gleichzeitig muss das Auto in Gegenwart und Zukunft auf nahtlos in das digitale Ökosystem des Nutzers, egal ob Käufer oder Abonnent, eingebunden sein. Die Smartphone-Integration via Android Auto oder Apple CarPlay zählt heute für viele zu einer Selbstverständlichkeit. Dazu kommen Möglichkeiten, in immer mehr Modellen auch Sprachassistenten wie Amazons Alexa oder den Google Assistant zu nutzen.

Unterschiede gibt es auch bei der Interaktion zwischen dem Menschen. Nio musste feststellen, dass der KI-Assistent Nomi mit Gesicht und Gesten den Kunden in Europa weniger zusagt als in China. Mittlerweile kostet das fortan „Nomi Mate“ genannte System Aufpreis – die unveränderten Funktionalitäten gibt es ab Werk ohne digitales Gesicht auf dem Armaturenbrett.

Abschottung statt Wettbewerb?

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Zuletzt sorgten Überlegungen die Schlagzeilen, seitens der EU-Kommission eine Wettbewerbsverzerrung bei Elektroautos zu prüfen. Sollten starke staatliche Subventionen dazu führen, dass chinesische Marken ihre Fahrzeuge deutlich billiger anbieten können als europäische Anbieter, wären Strafzölle eine Möglichkeit.

Abschottung als Schutz vor einer Gefahr für die etablierte Autoindustrie? Besser ist eine Antwort mit guten Produkten zu weniger abgehobenen Preisen – auch wenn die Lohnkosten in China noch unter denen in Europa liegen. Da verwundert es umso mehr, dass der Ora Funky Cat mit Preisen ab 38.990 Euro in Europa derart teuer ist. Nicht nur der MG4 liegt deutlich darunter. Mit dem Fiat 600e ist auch ein Europäer spürbar günstiger und gewiss nicht schlechter. Auch wenn seine Software es nicht erlaubt, seinem Auto einen Namen zur Aktivierung der Sprachsteuerung zu geben.

Fazit

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Autohersteller aus China entwickeln sich in großer Geschwindigkeit zu globalen Playern und ernsthaften Konkurrenten für etablierte Konzerne. Nicht nur im digitalen Bereich, sondern auch bei der Hardware, legen die Entwicklungsabteilungen vor. Eine Gefahr für die Autowelt? Eher eine Chance, als Antwort darauf weiter am Produktangebot zu arbeiten – und auf Kundenwünsche zu hören.

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Text: Bernd Conrad
Bilder: Benjamin Brodbeck (2), Archiv