Ein paar Unterschriften noch, dann sind wir allein: Der Bentley Flying Spur V8 und ich.
Leicht erhöhter Puls an einem Freitagnachmittag. Der zäh fließende Verkehr auf der Ausfallstraße im Münchner Norden wird zum subjektiven zweispurigen Stillstand. Die Vorfreude dehnt Minuten in Stunden auf dem Weg zu Bentley.
Gefühlt zwei Leben später beginnt die Übergabe des Testwagens, interessanterweise mit der Kopplung meines iPhone und der Einweisung von Freisprecheinrichtung und Multimediabedienung. Schöne neue Welt…
Ein paar Unterschriften noch, dann sind wir allein: Der Bentley Flying Spur V8 und ich.
Die Fingerkuppe legt sich neben den Fahrersitz und…Nichts! Mit einem zu soften Tastendruck ist ein solch potentes Beispiel für Motorenbau nicht zu erwecken: der Start/Stop-Knopf in der Mittelkonsole will durchaus mit Schmackes aufgefordert werden, den Motor zu anzuwerfen. Die Achtgang-Automatik nimmt ihre Arbeit auf und es geht los.
Die große Limousine sortiert sich in den Stop-and-go-Verkehr ein, ach was, sie wird sortiert. Wo man sich mit einem Auto für Normalsterbliche bei der Hofausfahrt oder dem Spurwechsel eine Lücke regelrecht erkämpfen muss, sind sich die anderen Verkehrsteilnehmer plötzlich nicht mehr selbst am nächsten. Wie ein Kreuzfahrtschiff das Wasser verdrängt, pflügt der Flying Spur erhaben durch den Verkehr und wird vom Handwerker im Ducato genauso hofiert wie von der Hausfrau im Corsa.
Das macht den besonderen Reiz eines Bentley aus. Er provoziert keinen offensichtlichen Neid, wie beispielsweise ein extrovertierter Rolls Royce oder gar marktschreierische Supersportwagen aus Maranello, Sant’Agata Bolognese und Woking (okay, diese Heimat ist noch nicht allen geläufig: McLaren). Die 5,30 Meter lange Limousine ist sich ihrer Präsenz durchaus bewusst und erzeugt Ehrfurcht, ohne aber zu provozieren.
2005 wurde der Bentley Continental Flying Spur das erste Mal vorgestellt. Im Frühjahr 2013 verlor er nicht nur das Wort „Continental“ im Namen, um ihn von den gleichnamigen Coupé- und Cabriovarianten zu emanzipieren, sondern erfuhr auch eine gründliche Überarbeitung. Während das Karosseriekleid in großen Zügen komplett neu gestaltet wurde – was vor allem dem ehemals hochbeinigen und uninspirierten Heck sehr gut getan hat – stellt sich die technische Basis weitgehend gleich dar; wir sollten also nicht unbedingt von einer neuen Modellgeneration sprechen. Vergleichbar ist der Modellwechsel mit dem Übergang vom VW Golf V zum Golf VI – womit wir eine Brücke zum Familienstammbaum haben.
Bentley gehört zum Volkswagen-Konzern, das kann ein Flying Spur auch nicht verleugnen. Die Baureihe basiert auf Komponenten des VW Phaeton, so auch der Technikbaukasten mit der kompletten Multimediaeinheit: Den (zu trägen) Touchscreen für Navigation, Telefon und Radio kennen wir neben dem Phaeton auch aus diversen Konzernmodellen wie VW Touareg Tiguan und Scirocco oder – festhalten – z.B. dem letzten Skoda Superb.
In seinen Grundzügen stammt auch der Motor des Flying Spur V8 aus einem Konzernbruder, nämlich dem Audi A8.
Natürlich wurde das Vierliteraggregat ordentlich gemästet: Der Bi-Turbo knallt maximal 660 Nm Drehmoment auf die Kurbelwelle und leistet bis zu 507 PS, die er über vier angetriebene Räder auf den Asphalt stellt - wenn er nicht gerade im Teillastbetrieb mit Zylinderabschalten beschäftigt ist.
Ja, so etwas neumosiches kann er auch. Wird nur wenig Leistung abgerufen, demokratisiert sich das Schlachtschiff mit dem fließenden Verkehr und cruist als profaner Vierzylinder bei Richtgeschwindigkeit über die Mittelspur, ohne dass Fahrer und Passagiere von diesem Arbeitsprinzip etwas mitbekommen - den Soundingenieuren sei ebenso gedankt wie dem reichlich verbauten Dämmmaterial.
Wie man überhaupt sehr gut verpackt ist im Bentley – nicht nur mit der betörenden Karosserieform (in meinen Augen ganz klar die Schokoladenseite: das muskulöse Heck) sondern auch mit doppelten Seitenscheiben, massiv-schweren Türen und flauschigem Hochflorteppich unter den hoffentlich sauberen Schuhen. Vom Motorsound kommt auch bei Volllast schlicht zu wenig im Innenraum an – man bemerkt die Klangschleppe, die die Fuhre hinter sich herzieht, eher an aufgeschreckten Passanten mit aufgerissenen Augen. Wer sein Benehmen in Sachen Understatement also dem optischen Auftritt des Flying Spur anpassen möchte, streichelt das Gaspedal bitte sehr nur ein wenig.
Aber jetzt nicht, sorry! Es ist erstaunlich, mit welcher Urgewalt die 2,4-Tonnen Leergewicht bei schwerem Gasfuß nach vorne stürmen. Man ist versucht, im Rückspiegel nachzusehen, ob man den Belag von der Straße geräumt hat und dieser sich hinter einem auftürmt. Das ist aber nicht der Grund, warum kein anderes Auto mehr zu sehen ist. Es kann einfach kaum einer mithalten!
Der Beschleunigungsorgie auf der nächtlich-leeren Autobahn wird leider jäh der Riegel vorgeschoben, als die Cockpitanzeige auf die montieren Winterreifen (Dunlop SP Winter Sport 3D im Format 275/35 R 21) hinweist – geschwindigkeitsbegrenzt auf 260 km/h. Ohne dieses Handicap ist laut Werksangabe bei 295 km/h Top Speed das Gleichgewicht von Vortrieb und Fahrwiederständen erreicht. Ganz schön fix für eine Schrankwand.
5,2 Sekunden verspricht das Datenblatt für den Stammtischwert 0-100 km/h – nur zur Erinnerung, wir sprechen von 2,4 Tonnen Fahrzeuggewicht. Beim laienhaften Versuch, diese Werksangabe nachzustellen (was mangels Messequipment natürlich nicht gelingt - auch gar nicht gelingen soll) kommt auch der erwartete Achtzylindersound aus den Endrohren. Hier befindet sich neben dem roten statt schwarzen Bentley-Logo auch das einzige Unterscheidungsmerkmal zum Flying Spur W12 (6,0 Liter, 626 PS): Die Abgasausgänge stilisieren zwei liegende Achten links und rechts an Heck – ein gelungener Hinweis auf die Zylinderzahl (während der W12 zwei ovale Endrohre zur Schau trägt).
Zurück zur Fahrfreude. Mit der erwähnten Leichtigkeit trickst der Bentley also scheinbar alle physikalischen Kräfte aus und donnert gen Horizont - ach was, gefühlt weit darüber hinaus.
Sobald Verzögerung gefragt ist, merkt man, dass auch noch so große Bremsen bei einem solchen Trumm Auto vollen Einsatz sehen wollen. Trainierte Oberschenkel sind zu empfehlen um den rechten Fuß mit den nötigen Nachdruck auf das Bremspedal zu schmettern, sollte sich doch z.B. der Fahrer eines BMW 5er GT erdreisten, mit „nur“ 180 Stundenkilometern auf die linke Spur auszuscheren.
So hängt man also nun hinter diesem fest – natürlich verbietet es die Contenance, die Lichthupe des Flying Spur zu betätigen, um sanft darauf hinzuweisen dass man es durchaus in Betracht ziehen möchte, schneller zu fahren.
Ob es also am nicht zu offensichtlichen Überholimage der Bentley-Front mit ihren ovalen LED-Tagfahrlichtringen liegt oder am fehlenden Spiegelblick des BMW Fahrers, dass die mittlere Spur leer und verwaist bleibt, lässt sich nicht beantworten. Als es das bayerische Motorenwerk dennoch wieder nach rechts schafft, ist der niedersächsisch-britische Achtzylinder-Bulle schon am Fünfer vorbei noch bevor der seinen Dreimalblinken-Vorgang beendet hat und entzieht sich mit Warp-Antrieb der Realität – was für ein Spaß!
Runter von der Autobahn, Landstraße von Süden hinein nach München. Bei ordnungsgemäßen 100 Stundenkilometern bleibt Zeit, das Interieur des Flying Spur wirken zu lassen. Die breite Mittelkonsole läuft über zwei geschwungene Flügel im Armaturenbrett aus, alles ist mit feinstem Leder bezogen, in diesem Exemplar in einer ansehnlichen Kombination aus blau und beige.
Auf den breiten und sehr bequemen Sitzen ohne wirklichen Seitenhalt klemmt man leider deutlich zu hoch unter der A-Säule, das Dach kommt durch das Schiebedach (seit langem mal wieder kein achsogroßes Panoramadach sondern eine klassische Luke im DIN-A2-Format) dem Kopf zusätzlich näher. Ich möchte erwähnen, dass ich mit 1,92m Größe eher zu den Sitzriesen zähle. Nun gut, in dieser Position ist man dem Himmel eben noch ein Stückchen näher.
Mit einem Knopfdruck am Sitz beginnt die entspannende Lendenmassage der beheizbaren und belüfteten Sitze. Apropos Size: Der Beifahrersitz hat keine Belegungserkennung und somit ertönt kein Warnsignal, wenn dort eine nicht angeschnallte Person sitzt – das gleiche gilt für die vielfach verstellbaren Einzelsitze im opulenten Fond. Dieser Fauxpas lässt sich leider auch nicht mit britischem Humor in die Richtung „Bentley war und ist eine Fahrermarke, kein Hersteller von Chauffeurautos“ weglächeln.
Das anfangs gekoppelte iPhone streamt ganz neumodisch Musik, was zur Spielerei mit dem Naim-Soundsystem einlädt. So richtig überzeugen kann die Anlage des britischen Klanggeräte-Herstellers leider nicht, Bässe kommen recht stumpf aus den Boxen und die Höhen wirken zu spitz. Zudem klappert das Heckscheibenrollo im Takt der Musik deutlich hörbar vor sich hin – Linderung verschafft man durch das elektrische Ausfahren des Sonnenschutzes. Falls die Sonne auch von vorne scheint, klappt man ganz klassisch die Sonnenblenden herunter und oops – die Hand des Beifahrers klebt – aus dem Scharnier der rechten Blende quillt weiße Schmiere. Wer um die 200.000 Euro für einen Flying Spur hinlegt, dem könnte so etwas sauer aufstoßen, mich als Vertreter der Fußvolk-Fraktion entspannt es aber ungemein, zu sehen, dass auch im Autohimmel immer noch mit Wasser gekocht wird.
Jaja, schon gut - ich gebe ihn wieder her!
Nach 532,8 gemeinsamen Kilometern sind wir ein Team geworden, der Flying Spur und ich. Der große Wagen passt eigentlich nicht in die „normale Welt“ wie z.B. die Reihenhaus-Tiefgarage (zu breit, zu großer Wendekreis) und die Unterhaltskosten fressen jedem, der für sein Geld arbeiten muss anstatt es verwaltet zu bekommen nicht nur wegen der 18,6 Liter Durchschnittsverbrauch (laut Bordcomputer) das letzte Haar vom Kopf.
Dennoch bleibe ich noch einen Moment sitzen, als ich den Wagen abstelle und überlege, ob man nicht doch einfach durchbrennen sollte. Das Streben nach Höherem holt mich aber zurück auf den Boden. Ganz zufällig parkt neben dem Flying Spur sein großer Bruder, der Bentley Mulsanne – es geht also immer noch ein bisschen mehr - vielleicht ja auch einmal in diesem Theater...
Gedanken zum Bentley Flying Spur V8
Was mich beeindruckt:
Wie sexy eine so große viertürige Stufenhecklimousine gestaltet sein kann.
Was mich irritiert:
Wie wenig der Flying Spur versucht, Volkswagen-Bauteile im Innenraum zu kaschieren.
Was ich vermisse:
Den Flying Spur, nachdem ich ihn abgeben musste.