Zwei Wochen mit dem extra langen Hymer B778 PremiumLine.
Der Statistiker merkt es in den Tabellen: Vor allem in den Sommermonaten taucht der Fiat Ducato in den PKW-Zulassungstabellen immer sehr weit vorne auf, fast 2.500 Exemplare alleine im Juni 2017. Auch auf den Straßen sieht man mehr und mehr Wohnmobile und unter Bekannten und Freunden steigt die Zahl derer, die campen gehen.
Camping liegt im Trend. Der Caravaning Industrie Verband, in dem die Europäischen Hersteller von Wohnwagen und Reisemobilen organisiert sind, berichtet für das Jahr 2016 positive Zahlen: Der Umsatz mit Neufahrzeugen stieg im Vergleich zum Vorjahr um 19,9 Prozent auf 4,82 Milliarden Euro, insgesamt setzte die Branche im vergangenen Jahr 8,77 Milliarden Euro um. Zeit, dem Camping-Trend auf den Zahn zu fühlen. Was wir dafür brauchen? Ein Wohnmobil und einen Plan.
Da der Fiat Ducato ca. 80 Prozent Marktanteil bei den Wohnmobilen hat, am besten mit einem Gefährt auf eben dieser Basis. Das ist beim Marktführer Hymer natürlich im Programm, und weil sie es gerade nicht kleiner hatten, starten wir mit einem 8,58 Meter langen, leer 3,8 Tonnen schweren Dreiachser mit der Modellbezeichnung B778 PremiumLine.
Der Plan: Von München über mehrere Stationen nach Schweden und zurück.
Die Reise beginnt kurz nach der Abholung des Wohnmobils bei Hymer mit einem lauten „Plong“ und abruptem Leistungsverlust. Nachdem es der schwere Kasten gerade so von der Autobahn über einen Hügel auf einen Parkplatz geschafft hat, ist nach Öffnen der Motorhaube schnell die Vermutung bestätigt: der Luftschlauch hat sich vom Turbolader verabschiedet. Da beweist die Fiat-Wohnmobil-Service-Hotline schnelle Hilfe. Nach 30 Minuten ist der Abschlepper da und in der Iveco- und Fiat Professional-Werkstatt bekommt das erst 1.600 Kilometer gelaufene Reisemobil laut Aussage des Meister „statt den ab Werk typischerweise viel zu schwachen Manschetten dickere und haltbarere“.
Nachdem ich mich in ca. 2,5 Stunden durch die komplette Iveco- und Fiat-Verkaufsliteratur gewälzt habe (und von den Drehmomentkurven schwerer LKW nachhaltig beindruckt werde), geht die Fahrt weiter. Gottseidank blieb dieser Defekt, alleine und mit leerem Fahrzeug, der einzige.
Zu Hause angekommen ist schon das Einladen eine Freude für sich. Statt sorgsam ausgewählte Kleidungsstücke und Spielzeuge für die Kinder wird einfach eingeräumt. Aufgrund der Größe des Hymer B778 P.L. kann es sich dabei um den halben Hausstand handeln, wie wir erst bei der Rückkehr wissen, bleibt vieles ungetragen. Auch die große Fahrradgarage mit 350 kg Zuladung ist sehr schluckfreudig: vier Fahrräder, ein Tisch, Stühle, Strandspielzeug, Schuhe und vieles mehr passt hinein.
Hier kommt natürlich der Vorteil des großen Wohnmobils mit einem zulässigen Gesamtgewicht von fünf Tonnen zum Vorschein: Man kann fast ohne Rücksicht einladen. Viele moderne vollintegrierte Wohnmobile, die den „neueren“ Führerscheinen für Fahrzeuge mit maximal 3,5 Tonnen Gesamtgewicht gerecht werden, wiegen leer ca. 3.000 kg und können somit nur 500 kg zuladen.
Gleichzeitig muss man mit dem schweren Gerät aber auch diverse Regeln befolgen. Tempolimits gelten wie für LKW: 80 km/h auf Landstraßen, maximal 100 km/h auf der Bundesautobahn. Auch LKW-Überholverbote müssen eingehalten werden, sofern sie nicht extra für Fahrzeuge ab 7,5 Tonnen ausgewiesen sind.
Für die Navigation empfiehlt sich ebenfalls eine spezifische Anwendung. Das im Testmobil verbaute Zenec-Modul hat leider größtenteils nur das gemacht, was es wollte, aber selten, wozu man es brauchte. Glücklicherweise hatten wir ein Tomtom Go6200 Professional mit dabei. Hier kann man die Fahrzeugabmessungen eingeben und wird entsprechend navigiert. Das funktionierte immer prima und mit den Tomtom Live-Services auch meist staufrei. Punktabzug gab es aber dafür, dass uns das Gerät für 10 Minuten angeblicher Zeitersparnis einmal nachts statt entspannt über die Autobahn durch enge Dörfer, Serpentinenstrecken und das tiefe hessische Hinterland schickte, wo dann plötzlich die Brücke für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen gesperrt war. Auch den Vollausfall leistete sich das mobile Navi leider: Am Ende der Tour reagierte der Touchscreen nicht mehr, trotz mehrmaliger Resets war und ist das Tomtom damit leider nicht mehr zu gebrauchen. Schade: ein Abgang mit gesenktem Blick nach einer bis dahin guten Vorstellung.
Zurück zur Reise und dem Reisemobil. Erster Stopp: Autostadt in Wolfsburg. Für Campingfreunde nicht die erste Wahl? Doch, eine prima Station. Am Konzerntempel gibt es große, günstige Wohnmobilstellplätze mit Wasser- und Stromanschluss. Die Autostadt selber bietet ein Aktivitätenprogramm, für das ein ganzer Tag eigentlich nicht ausreicht: die Kinder können basteln, in Hüpf- und Spielwelten eintauchen, mit kleinen Beetles durch virtuelle Städte fahren und z.B. im Pizzarestaurant selber ihre Pizza zusammenstellen.
Die Familie kann am künstlichen Strand entspannen, Boote ausleihen und sich – im Rahmen des Sommerfestivals – Artistenvorführungen ansehen. Während die Liftfahrt in einem der Auslieferungstürme für alle ein Heidenspaß ist, geht Papa dann aber noch alleine in den „Markenpavillons“ Autos gucken.
Weiter geht es Richtung Norden. Und da auch passend: Station an einem kleinen, feinen Campingplatz auf der Halbinsel Nordstrand. Das Wetter empfing uns nordisch kühl. Die schiere Anzahl von Schafen auf den Deichen und Salzwiesen war überwältigend, wie auch der karge Wortschatz der Einheimischen.
Zwei Tage später ging es weiter nach Dänemark, zu einem Campingplatz in der Region Norre Aaby an der Ostsee. Große, perfekt gepflegte Parzellen, ein freundliches Personal und eine gute Ausstattung des Campingplatzes überraschten mich. Hier ließ es sich gut aushalten.
Im Hymer-Wohnmobil natürlich auch. Wegen der schieren Größe des Fahrzeugs war das Leben als Campingfamilie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern alles andere als beengt. Zwei Betten mit bequemen, bis zu 2,08 Meter langen Matratzen im Heck, eine gemütliche Sitzgruppe um den Tisch mit der Eckbank und den drehbaren Fahrer-und Beifahrersitzen sowie das darüber liegende Hubbett für den Nachwuchs sorgten für entspanntes Wohnambiente.
Die Materialauswahl im Wohnbereich mit farblich gut abgestimmten Holztönen, glänzenden Fronten an den Schubladen und sauber schließenden Türen fiel positiv auf. Auch die Verarbeitungsqualität im Wohnbereich war über jeden Zweifel erhaben. Was man vom Armaturenbrett leider nicht behaupten kann. Nicht nur der aufpreispflichtige, perfekt abdunkelnde Rollladen der Windschutzscheibe, machte Geräusche, auch ein stetes Knistern im Bereich der Verkleidungen, die das Fiat Ducato – Armaturenbrett mit der breiteren Karosserie verbinden, sorgte vor allem auf schlechten Autobahnen (Stichwort: A7!) für Verdruss.
Auf dänischen Landstraßen war da schon mehr Ruhe. Die führten uns, spontan entschieden, auf die Insel Farnö. Und genau jetzt ist der Punkt erreicht, der auch Camping-Zweifler positiv überraschen kann. Den Schweden-Plan haben wir kurzerhand vertagt, Wetteraussichten und der eigene spontane Wunsch haben uns auf die dänische Nordseeinsel geführt. Gottseidank!
Sonnenschein, angenehmer Wind, Temperaturen um 25 Grad und ein Campingplatz nur 500 Meter vom Strand entfernt sorgten für Entspannung. Mit den Fahrrädern zum und über den Strand zu cruisen war vor allem für die Kinder ein Riesenspaß, der Autor dieser Zeilen fand es noch besser, mit dem Wohnmobil (legal) bis ans Meerufer zu fahren. Nachts müssen aber alle Fahrzeuge runter vom Strand, zu unberechenbar sind die Gezeiten im Wattenmeer.
Zurück in Deutschland stoppten wir auf halber Strecke auf einem Campingplatz samt „Reiterparadies“ für die Kinder nahe Kassel. Das Wetter war – deutscher Sommer 2017 – regnerisch, was die Aufenthaltszeit im Wohnmobil stark erhöhte. Damit stieg auch die Zehenspreizer-Gefahr massiv an. Denn die Holzverkleidung der Sitzbank um den Tisch steht unpraktisch weit und schutzlos im Innenraum, sodass man beim unvorsichtigen Durchgehen ohne Socken und Schuhe mit dem kleinen Zeh gerne mal dort hängen bleibt. Zumindest kann man dann mit schmerzverzerrtem Gesicht gleich auf die bequeme Sitzgelegenheit fallen und warten, bis der Schweißausbruch beendet ist.
Weil ich gerade am Meckern bin: Auch die Scheibenwischer bergen einen Verbesserungsvorschlag in sich: drei an der Zahl sind für klare Sicht der riesigen Windschutzscheibe nötig. Leider liegt an allen drei der Wasserschlauch für die Scheibenwaschanlage zu locker auf, das ständige Gewackel nervt beim Fahren. Eine oder zwei Halteösen pro Wischer sollten sicherlich machbar sein.
Auch dürfte das Waschbecken im Bad ein paar Zentimeter tiefer sein, damit würde es besser zum verschwenderisch großen Hymer passen. Dass es mir in zwei Wochen kaum gelang, dauerhaft für warmes Wasser in der Dusche zu sorgen (mal zu kalt, dann viel zu heiß, dann nur noch kalt) führe ich jetzt mal auf einen Bedienfehler der Heizungsanlage zurück und damit auf eigene Naivität.
Nach zwei Wochen und knapp 3.500 Kilometern im Hymer B778 PremiumLine bin ich um einige Erfahrungen reicher. Die Fahrerfahrung: Auch mit der Tempolimitierung auf 100 km/h und der aktiven Teilnahme an „Elefantenrennen“ mit den LKW-Kolonnen auf deutschen Autobahnen kommt man voran, nach einer Zeit stellt sich dabei sogar eine gewisse Form der Entspannung ein.
Auch das Camping an sich war eine neue Erfahrung. Und keine schlechte! Klar hat das große Wohnmobil sehr viel Komfort und Freiraum geboten, es ist aber vor allem die Flexibilität und die Entschleunigung dieser Form des Urlaubes, die ihren Reiz hat. Und damit die wachsenden Absatzahlen bei Wohnwagen und Reisemobilen verständlich macht. Camping ist also vor allem eine Einstellungssache. Denn günstiger wird der Urlaub zumindest kurz- bis mittelfristig damit nicht. Schon gar nicht mit einem noblen Wohnmobil wie diesem: 101.990 Euro Grundpreis ruf Hymer für den Langen auf, der Testwagen kam mit dem gar nötigen 177 PS-Motor, automatisiertem Schaltgetriebe und weiteren Extras auf 127.905 Euro.
Camper haben also nicht nur den Anschaffungspreis ihres Wohnmobils oder Wohnwagens, sondern auch den Unterhalt samt Versicherung des Fahrzeugs in ihre Kalkulation mit einzubeziehen. Günstiger im Vergleich zu Ferienwohnungen und Hotels sind natürlich die Campingplatz-Gebühren, die in unserem Fall zwischen 35 und 75 Euro je Nacht lagen. Nicht zu verachten ist übirgens der Vorteil, dass sich die Kinder auf einem abgesperrten Campingplatz frei bewegen können und sich schnell zurechtfinden. Ab jetzt gilt also: mein Verständnis für Campingfreunde ist geboren. Ob ich diese Urlaubsform wiederwählen werde, ist nicht ausgeschlossen.
So schafft es das von der Nachbarin schlicht als „Monster“ bezeichnete Hymermobil, sich in der Liste der Testwagen, die ich nur sehr ungern wieder abgab, relativ weit oben einzureihen.
Ausführliche Einsichten in den Hymer B778 PremumLine gibt es im – mit über 41 Minuten relativ langen – YouTube-Video, das ihr am Ende dieser Seite nach der Bildergalerie ansehen könnt.
Anmerkung: Genaue Namen und Adressen der einzelnen Campingplätze habe ich bewusst nicht im Text integriert, da dies ein Autoblog und keine Seite für Reisetipps bleiben soll. Wer Interesse an den Plätzen hat, kann gerne eine Email an redaktion@autonotizen.de oder eine Nachricht über Facebook schreiben. Die Auswahl der Campingplätze ist natürlich je nach Geschmack verschieden und für Camping-Meister auch gewiss einfacher als für Szene-Neulinge. Zudem würde ich mich über Info freuen, wenn Ihr findet, dass in einem Wohnmobil-Test durchaus auch die Campingpläze genau benannt werden sollten.
Technische Daten
Hymer B778 PremiumLine |
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Hubraum | 2.287 ccm |
Anzahl und Bauform Zylinder | 4 in Reihe |
Maximale Leistung kW / PS | 3.500 U/min |
Max. Drehmoment | 400 Nm bei 1.500 U/min |
Getriebe | automatisiertes Sechsganggetriebe |
Höchstgeschwindigkeit | 142 km/h (erlaubt in D: 100 km/h) |
Verbrauch real auf 100km | 11,0 Liter / 100 km |
Reifenmarke und –format des Testwagens | Michelin Agilis Camping 225/75 R 16 CP |
Leergewicht | 3.815 kg |
Länge / Breite / Höhe | 8,58 / 2,35 / 2,90 m |
Grundpreis | 101.990 Euro |
Testwagenpreis | 127.905 Euro |