Im elektrischen Nio ES8 ist man nie allein. Doch nicht nur Nomi macht Laune.
„Tue Gutes und rede darüber.“ Das gilt vor allem für Firmen mit Kapitalbedarf. Unter den aufstrebenden Elektroautobauern gibt es einige davon, angeschoben durch Geld und Motivation aus China. LeSee scheint dabei nicht nur mit LeEco und Lucid Motors, sondern auch mit Faraday Future zu scheitern. Trotz der teilweise dubiosen Meldungen über Milliarden-Investments stehen die Start-ups vor dem Aus.
Die größten Chancen räumen Analysten und Medien den Marken Byton und Nio ein. Wobei man das eigentlich nur noch für Byton machen muss. Die Firma um Ex-BMW-Manager Carsten Breitfeld hat ihre Prototypen bereits präsentiert, den ersten Produktionslauf aber erst für April 2019 angekündigt.
Nio ist da schon weiter. Hinter dieser Marke steckt ein Joint Venture von NextEV des chinesischen Milliardärs William Li mit den Staatskonzernen Changnan Auto und JAC. Auch Nio setzt voll und ganz auf die Elektromobilität. Anders als Byton (und die anderen) kann man einen Nio aber schon kaufen.
Der Nio ES8, ein fünf Meter langes SUV, wird seit Ende Juni 2018 in China verkauft. Knapp 10.000 Autos sind seitdem vom Band gelaufen, am vergangenen Wochenende wurde das exakt 9.727. Exemplar an einen prominenten Kunden, den Chef des Elektronikherstellers Xiami, übergeben.
Das Elektro-SUV mit Aluminium-Karosserie wird beim Joint Venture-Partner JAC in der chinesischen Acht-Millionen-Stadt Hefei, eine gute Flugstunde von Shanghai entfernt, gebaut.
Dort führte der Ruf nach einer ersten Probefahrtgelegenheit auch hin. Erstmals, und auch hier ist Nio weiter als viele künftige Mitbewerber, durften ausländische Medien selbst hinter das Steuer des ES8.
Zwei Elektromotoren mit jeweils 240 kW sorgen für Allradantrieb und insgesamt 480 kW, in alter Währung 653 PS, Maximalleistung. Das lässt sich, wenn es denn sein soll, in eine brachiale Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in nur 4,4 Sekunden ummünzen. Diesen Sprint schaffte der Testwagen übrigens achtmal hintereinander, ohne dass die Antriebsleistung wegen Überhitzung, ein sonst typisches Erlebnis bei Elektroautos, die Leistung herunterregelt.
Gut zu wissen ist bei der gebotenen Längsdynamik, die den Nio ES8 bei 200 km/h elektronisch abregelt, auch die Bremsen standfest sind. Die von Brembo zugelieferten Stopper überzeugen mit einem sauberen Druckpunkt und nur 33,8 Meter Anhalteweg. Selbst nach mehrmaliger Vollbremsung war kein Fading oder Nachlassen der Verzögerung spürbar.
Jetzt aber Schluss mit dem Unfug, der Nio ES8 will natürlich kein Sportwagen sein. Nachdem man das serienmäßige Luftfederfahrwerk in den Komfort-Modus gestellt hat, trägt einen der ES8 sänftenartig über den Marterpfad des Testgeländes.
Komfort kann er. Dafür sorgt auch das Platzangebot vorne und im Fond. Selbst auf der dritten Sitzreihe des SUV, das aktuell als Siebensitzer und ab 2019 auch als Sechssitzer mit 2-2-2-Bestuhlung angeboten wird, hält man es als großer europäischer Erwachsener länger als fünf Minuten aus.
Audi Q7 oder Skoda Kodiaq bieten weitaus weniger Platz hier hinten. „Die Zielgruppe für den ES8 ist die urbane, junge Familie mit zwei Kindern“, erklärt Hui Zhang, Deutschlandchef von Nio. „Die sind am Wochenende sehr oft mit den Schwiegereltern unterwegs.“ Und weil die chinesischen Kunden auch rein rationale Ansprüche haben, bietet der ES8 mehr als nur eine Alibi-Sitzreihe ganz hinten für die Prospektwerbung.
Knapp 2,5 Tonnen wiegt der Nio ES8. Das ist vor allem in schnell angegangenen Kurven spürbar. Das Auto drängt nach außen, weil die 480 Kilogramm schwere Batterie im Fahrzeugboden aber den Schwerpunkt nach unten drückt, wankt es kaum. Die Lenkung hat sehr große Winkel, erst spät lässt sich der ES8 zum Richtungswechsel überreden.
Auch hier zeigt sich wieder die Auslegung für den chinesischen Markt. Hier wird mehr im Stau gestanden als kurvengeräubert. Für Abwechslung sorgt spätestens jetzt Nomi.
Der digitale Assistent, der mit künstlicher Intelligenz lernfähig ist, wird überraschend schnell zur Sympathiefigur im Auto. Das mag auch an der geschickten Visualisierung der virtuellen Mitfahrerin liegen. Ein runder Aufsatz auf dem Armaturenbrett, einem Kopf gleich, ist schwenkbar und zeigt per Display Augenspiel und Mimik.
Aktuell versteht Nomi nur chinesisch, aber die Interaktion der Software lässt sich durch die Präsentation der mitfahrenden Aufpasser gut erleben. Nomi kann nicht nur sämtliche Fahrzeugfunktionen wie Sitzheizung und Klimaeinstellung auf „Hey Nomi“ regeln, sondern auch Witze erzählen und sogar Fotos der Mitfahrer schießen, die dann direkt in die Cloud hochgeladen werden.
Hier sind sie dann mit anderen Nio-Usern (so nennt die Marke ihre Kunden) und Fans teilbar. Fast 200.000 Chinesen nutzen laut Unternehmensangaben die eigens programmierte Nio-App als soziales Medium. Weit mehr als die knapp 10.000 Fahrer der Marke.
Auch wenn man sich nicht von Nomi blenden lässt, überzeugt der ES8 im Innenraum. Ein modernes, aber nicht zu futuristisches Design zeigt, dass man den Krieg um das größte Display gerne anderen überlässt.
Stattdessen punktet der ES8 mit durchaus geschmackvoller Materialauswahl und auf den ersten Blick mit guter Verarbeitung. Dass die Energierekuperation nur in zwei Stufen einstellbar ist und hierfür statt simpler Schaltpaddels ein Untermenü auf den großen Touchscreenmonitor aufgerufen werden muss, scheint die Chinesen nicht zu stören.
Die nutzen lieber die Streamingfunktion für Filme, Serien und Musik, die ebenfalls vorhanden ist. Das ließe sich nutzen, wenn man den 70 kWh großen Akku des ES8 unterwegs laden muss. Allzu oft will Nio seinen Usern so eine Zwangspause aber nicht zumuten.
Im ganzen Land wird aktuell ein Netzwerk von Batterietauschstationen aufgebaut. 29 existieren bereits, 18 davon an strategisch wichtigen Autobahnrouten. Bis zum Jahr 2020 sollen 1.100 Wechselstationen aktiv sein, bei denen sich das Batteriepaket in knapp dreieinhalb Minuten vollautomatisch austauschen lässt.
Dieser Plan klingt weniger verwegen, wenn man die junge Geschichte der Marke kennt. Sie liest sich eher wie ein Zeitraffervideo. 2014 gab es erste Ideen für neue Elektroautos. 2016 zeigte man den 100 kW (1.360 PS) starken Sportwagen EP9, mit de man direkt diverse Streckenrekorde auf mehreren Rundkursen in den Asphalt flüsterte. Gleichzeitig begann die Erprobung des ES8, der 2017 als Serienmodell vorgestellt wurde.
Umgerechnet ca. 57.800 Euro kostet der Nio ES8 in China und ist damit halb so teuer wie Teslas Model X. Wer die Batterie nicht mit dem Auto kauft sondern least, spart nochmals ca. 13.000 Euro in der Anschaffung. Dazu kommt dann natürliche eine monatliche Mietgebühr für die Batterie.
Für 150 Euro im Monat kann man zudem ein Elektrizitäts-Servicepaket inklusive Stromversorgung durch (Dieselbetriebene) Vans mit Riesenakku an Bord buchen, die einen Nio auch in entlegenen Gebieten ohne Ladesäule wieder flottmachen.
13 unternehmenseigene Niederlassungen, Nio Houses genannt, verkaufen den ES8 bereits seit Mitte 2018. Nochmals zu Erinnerung: Das ganze Projekt wurde erst 2014 gestartet.
Weniger schnell soll die internationale Expansion vonstattengehen. Trotz großem Büro in München, wo unter anderem das Design und weite Teile der technischen Entwicklung von Nio entstehen, möchte man keinen Fehlstart riskieren.
Offiziell nennt kein Nio-Verantwortlicher einen Zeitrahmen für den Marktstart in Europa. Wer aber von ersten Gehversuchen, wohl in Norwegen, um das Jahr 2021 herum ausgeht, dürfte nicht ganz falsch liegen.
Bis dahin bleibt Zeit, den ES8 und künftige Nio-Modelle auch für die Anforderungen globaler Kunden abzustimmen. Das dürfte und wird gelingen, denn die Substanz ist jetzt schon beachtlich.
Freuen wir uns also auf Nio. Und auf ein Wiedersehen mit Nomi. Die bestimmt noch liebenswerter ist, wenn man die gleiche Sprache spricht.
Technische Daten
Nio ES8 |
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Getriebe | Einstufen-Reduktionsgetriebe |
Elektromotor: Maximales Drehmoment | 840 Nm |
Elektromotor vorn: Maximale Leistung kW | 240 kW (326,4 PS) |
Elektromotor hinten: Maximale Leistung kW | 240 kW (326,4 PS) |
Batterie | 70 kWh, Lithium-Ionen |
Beschleuningung 0-100 km/h | 4,4 Sekunden |
Höchstgeschwindigkeit elektrisch | 200 km/h |
Reifenmarke und –format des Testwagens | Continental MaxContact MC6 265/45 R21 |
Leergewicht | ca. 2.500 kg |
Grundpreis | ca.57.800 Euro in China |