Schick, schnell, eng: Der Nio ET5 im ersten Fahrbericht.
Alles neu, und doch ganz klassisch. Die kompakte, nicht allzu geräumige Mittelklasselimousine mit dynamischem Anspruch bei Design und Fahrverhalten kehrt zurück. Und zwar in Form des Nio ET5, der sich damit als eine moderne Interpretation klassischer BMW 3er der Baureihen E30 und E36 gelten kann.
Der Nio ET5 im Video
Die Zahl drei spielt auch aus einem anderen Grund die zentrale Rolle beim ersten Fahrbericht des neuen chinesischen Elektroautos. Der ET5 ist das dritte Modell, das die Marke bei uns auf den Markt bringt. Nach der Oberklasse-Limousine ET7 und dem SUV EL7 folgt jetzt der Nio für den „User- Chooser“-Dienstwagenfahrer und Freiberufler.
Das Karosseriedesign suggeriert dabei kompaktere Ausmaße, als der Nio ET5 eigentlich mit. Er ist 4,79 Meter lang, 1,96 Meter breit und 1,50 Meter hoch. Damit parkt er in der Elektro-Mittelklasse ein. Einer seiner Konkurrenten heißt dabei nicht BMW 3er (eine i3 Limousine gibt es nur im Nio-Heimatland China), sondern i4. Aber auch im Teich von Tesla Model 3, Hyundai Ioniq 6 und (bald) VW ID.7 oder BYD Seal soll er nach Kunden angeln.
Sportlicher Auftritt
Optisch ist er ein interessanter Köder. Das markentypische Design mit spitzer Front, schmalen LED-Lichtleisten über den Hauptscheinwerfern und rund abfallendem Dach haben die Formgestalter geschickt mit kurzen Überhängen und dem Heckbürzel als aerodynamischem Abschluss kombiniert. In Kombination mit den optionalen 20-Zoll-Felgen (Serie: 19 Zoll) steht der Nio ET5 angriffslustig auf dem Asphalt, ohne als Effekthascher abgestempelt zu werden.
Trotz Fließheck öffnet nur ein kleiner Deckel den Weg in den Kofferraum. Ladewunder sollte man da nicht erwarten. 386 Liter gibt er Hersteller an. Ein kompakter VW Golf hat kaum weniger zu bieten. Die Lehne der Rücksitzbank kann man bei Bedarf umlegen, dann entsteht eine ansteigende Fläche. Außerdem erlaubt der Nio ET5, die entsprechende Kupplung als Option vorausgesetzt, auch den Betrieb als Zugfahrzeug. Die Anhängelast liegt bei 1.400 Kilogramm.
Kein Raumwunder
Knapp wie früher im 3er geht es innen zu, nur auf andere Art und Weise. Der Nio ET5 bietet auch für große Passagiere im Fond eine mehr als ausreichende Kniefreiheit. Trotzdem kauert man hier lieber nur auf Kurz- und Mittelstrecken. Die Bank ist arg niedrig über dem Boden montiert, man muss die Beine (zu) stark anwinkeln. Trotzdem gelingt der Kompromiss mit der Kopffreiheit nicht. Ab einer Größe von rund 1,85 Metern hinterlässt das Haargel Flecken auf dem serienmäßigen Glasdach (ohne Öffnungsfunktion). Zudem passen die Füße nicht unter die Vordersitze.
Im erwähnten alten BMW saß (und sitzt) man tief hinter dem fahrerorientierten Cockpit. Gegenteilig zeigt sich hier der ET5. Auch in niedrigster Position sitzt man kauernd auf dem Sitz, fühlt sich ein wenig wie ein Kutscher. Zudem blickt man (als großer Fahrer) stets auf den unteren Rand der Sonnenblende. Ampeln oder Verkehrsschilder sind damit schlecht erkennbar.
33 Sensoren, aber schwache Software
Macht nichts, das regelt ja die Assistenzausstattung, oder? Immerhin bauen die Chinesen 33 Sensoren ein. Schon auf den ersten Blick sieht man die Bereitschaft des ET5, automatisierte Fahrfunktionen übernehmen. Mittig auf dem Dach ist die Ausbuchung eines Lidar-Sensors für den Fernblick der Software auszumachen, an den Ecken und den Flanken Kameras. Dazu kommen noch Radarsensoren.
Vom autonomen Fahren ist aber auch der ET5 mit seinen digitalen Adleraugen noch weit entfernt. Dafür hapert es nicht nur an den rechtlichen Grundlagen, sondern auch am Computerprogramm im Auto. Die Verkehrszeichenerkennung wirft Tempolimits nach Gutdünken auf das 10-Zoll-Display hinter dem Lenkrad.
Es empfiehlt sich also, die automatische Übernahme erkannter Tempolimits zu deaktivieren. Ansonsten bremst man auf der (unlimitierten) Autobahn gerne auf 50 km/h ab, was wohl irgendwie eine „Default“-Einstellung zu sein scheint. Auch der automatisierte Spurwechsel mag nicht so richtig, zeigt bei freier Nebenbahn meist einen roten Bereich an. Schade, denn die Totwinkelüberwachung erkennt ansonsten zuverlässig andere Verkehrsteilnehmer und zeigt das Umfeld detailgetreu hinter dem Lenkrad an.
Über den zentralen Touchscreen lassen sich vielfältige Komfortfunktionen steuern. Das Menü ist teilweise recht verschachtelt. Gerne ist Nomi behilflich. Auf den Zuruf „Hi Nomi“ ist die Sprachsteuerung zur Stelle und erkennt, wer mit ihr spricht. So kann man die Sitzheizung auch hinten (als Option in einem Paket) oder die Massage vorne (ebenfalls nicht Serie) aktiveren. Navigationsziele versteht Nomi zuverlässig und startet die Routenführung.
Als sichtbare Interaktion guckt ein virtuelles Gesicht auf dem Cockpit ins Auto, winkt manchmal und kann sich freuen. Das kommt scheinbar nicht bei allen europäischen Kunden gut an. Hier hat Nio schnell reagiert. "Nomi Mate“ (Englisch für Freund, Kumpel) kostet jetzt 600 Euro Aufpreis. Standardmäßig verzichtet die Sprachsteuerung auf das Gesicht.
Unterwegs zeigt der Nio ET5, dass er seinen sportlichen Auftritt ernst meint. Damit ist nicht nur der spontane Antritt des Elektroantriebs mit zwei Motoren und einer Systemleistung von 360 kW (489 PS) gemeint. Schnell geradeausfahren können mittlerweile viele Elektroautos. Auch wenn die 4,0 Sekunden für den Spurt aus dem Stand von null auf 100 km/h (im Sport+ - Modus) beeindruckend sind.
Kurven? Sehr gerne
Der ET5 erfreut auf kurvigen Straßen mit einer spürbaren, direkten Verbindung zwischen Fahrer, Auto und Straße. Das Fahrwerk mit straffer Grundnote kommt ohne die Luftfederung des ET7 aus. Querfugen oder kurze Wellen werden teilweise nur wenig gefiltert durchgereicht. Spätestens nach dem Ortsausgang, also bei höherem Tempo, überzeugt aber das Schluckvermögen der Dämpfer bei hochgehaltener Fahrdynamik. Die Lenkung ist ausreichend direkt, auch hier ist der ET5 fahraktiver ausgelegt als sein großer Bruder. Regennasse Straßen bringen den Chinesen auch mit Geschwindigkeitsüberschuss in der Kehre nicht aus der Ruhe. Der Grip passt ebenso wie die Traktion am Kurvenausgang. Umso mehr stören dann die rutschigen Bezüge auf seitenhaltarmen Vordersitzen.
Kaufen oder mieten?
Zum Marktstart im Jahr 2022 setzte die Nio-Vertriebsorganisation einzig auf das Auto-Abo-Modell. Nur damit macht das „Battery-as-a-Service“-Konzept des Herstellers richtig Sinn. Auch in Europa baut Nio ein Netz von Batteriewechselstationen auf. Aktuell gibt es aber erst drei Standorte in Deutschland.
Nach vorheriger Anmeldung an der Station, die das Navigationssystem automatisch bei ausgewähltem Ziel übernimmt, parkt der Nio vollständig autonom in der Tauschstation ein. Der Akku wird aus dem Auto geschraubt und gegen einen anderen, zu 90 Prozent geladenen, Stromspeicher ausgetauscht. Dabei lauscht man dem Konzert der Mechanik, denn für den Tausch wird das Auto "stillgelegt", das Infotainmentsystem bleibt aus. Dieser automatisierte Prozess dauert rund vier Minuten. Wer das nicht mag, oder mangels Station am Wohnort oder entlang der Route nicht kann, muss mit einer maximalen DC-Ladeleistung von 130 kW Vorlieb nehmen.
Batterietausch für Abo-Kunden
Den Batteriewechsel können auch Kunden in Anspruch nehmen, die ihren Nio lieber kaufen als abonnieren. Aber nur dann, wenn man die Batterie mietet. Das 75 kWh große Modul für 456 Kilometer WLTP-Reichweite kostet 169 Euro im Monat, der 100-kWh-Akku mit 590 Kilometer Reichweite 289 Euro Rate.
Wer lieber ein komplettes Elektroauto mit Batterie kaufen will, zahlt zum 47.500 Euro teuren ET5 heftige Aufpreise. 12.000 Euro kostet die Version mit 75 kWh dann mehr, also insgesamt 59.500 Euro. Mit 100 kWh sind es 21.000 Euro Aufpreis, mit Auto drumherum somit 68.500 Euro
Ein günstiges Elektrofahrzeug ist der Nio ET5 also nicht. Auch damit folgt er der Tradition des BMW 3er. Der Testwagen mit großer Batterie, Außenlackierung in „Sunbathe Yellow“ (Auch hier ein Wink in die Vergangenheit: Mercedes-Benz Lack Ahorngelb, Farbcode 606), Comfort-Paket (siehe oben, Massage und Kühlung), 20-Zöllern und orangenen Bremssätteln (nun ja) kostet 73.880 Euro.
Ein Batteriekauf lohnt sich rein rechnerisch erst nach rund sechs Jahren. Im Abo gibt es vorkonfigurierte ET5 ab je nach Laufzeit und Ausstattung ab 999 Euro im Monat.
Testverbrauch: 19,0 kWh / 100 km
Die 590 Kilometer Reichweite sind freilich ein Normwert, aber nicht ganz utopisch. Nach unseren Testfahrten (mit Akku-Tausch) zeigte der Bordcomputer einen Wert von 19,0 kWh auf 100 Kilometer an, was nur knapp über den 18,6 kWh der Werksangabe liegt. Rein rechnerisch wären also 526 Kilometer drin.
Fazit
Klassisches Rezept, neu arrangiert. Der Nio ET5 bringt die kompakte Sportlimousine ins Elektro-Zeitalter. Das bedeutet aber auch, dass der Chinese nicht mit einem großzügigen Platzangebot und viel Kofferraumvolumen punkten kann.
Unabhängig davon bieten die Sitzposition und die noch unausgereifte Assistenz-Software Raum für Verbesserungen. Fahrwerk, Lenkung und Elektroantrieb gefallen heute schon. Ebenso der optische Auftritt, sogar in Gelb. Das gab es für den ersten BMW M3 ja auch einmal…
Technische Daten
Nio ET5 |
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Antrieb | Allradantrieb |
Getriebe | Eingang-Reduktionsgetriebe |
Elektromotor vorn: Maximale Leistung kW | 150 kW (204 PS) |
Elektromotor hinten: Maximale Leistung kW | 210 kW (286 PS) |
Systemleistung: kW / PS | 360 kW (489 PS), 700 Nm |
Batterie | 75 kWh oder 100 kWh |
Maximale Ladeleistung Gleichstrom (DC) | 130 kW |
Ladeleistung Gleichstrom (DC) im Test | nicht gemessen, da Batterietausch |
Beschleuningung 0-100 km/h | 4,0 Sekunden (im Fahrmodus Sport+) |
Höchstgeschwindigkeit | 200 km/h |
Norm-Verbrauch kWh / 100 km | 18,6 kWh, Reichweite 456 (75 kWh) bzw. 590 km (100 kWh) |
Realer Verbrauch im Testzeitraum kWh/100 km | 19,9 kWh (Reichweite mit 100 kWh rechnerisch 526 km) |
Reifenmarke und –format des Testwagens | Pirelli P Zero 245/40 R20 |
Leergewicht | 2.160 kg |
Anhängelast (gebremst) | 1.400 kg |
Länge / Breite / Höhe | 4.790 / 1.960 / 1.499 mm |
Grundpreis | 47.500 Euro (ohne Akku) |
Testwagenpreis | 73.880 Euro (inkl. 100 kWh Akku und Optionen) |