Kleiner hatten sie es gerade nicht: Der Kia EV9 im Fahrbericht mit Video-Review.
Das neue Selbstbewusstsein, dass die Marke Kia über die vergangenen Jahrzehnte aufgebaut hat, scheint sich im neuen EV9 zu konzentrieren. Der bisher größte Kia für Europa soll klotzen, nicht kleckern. Das kantige Design versucht erst gar nicht, die Größe des Über-Fünf-Meter-SUV zu kaschieren. Gleichzeitig ist es den Gestaltern gelungen, das Elektro-Flaggschiff der Marke nicht monströs oder gar aggressiv wirken zu lassen. Unter dem großen Blechteil ist der EV9 nicht nur mit modernster Technik vollgestopft, sondern bei Bedarf auch mit bis zu sieben Personen.
Der Kia EV9 im Video
Ein im wahrsten Sinne des Wortes mächtiger Kasten also, der schwer wiegt? So wie der berühmt-berüchtigte „kalte Hund“ (ein Irrer Kindergeburtstags-Kuchen, bestehend aus Butterkeks und Schokolade mit allen Kalorien der Welt) – oder ein heißes Teil, dieser neue Oberklasse-Koreaner?
Auf einer Länge von knapp 5,02 Metern in der GT-line (womit der EV9 tatsächlich vier Zentimeter kürzer ist als der BMW i5 ) stellt Kia ab Werk einen Siebensitzer zusammen. Hinter der verstellbaren Dreierbank im Fond gibt es zwei weitere Sitze, die sich elektrisch im Kofferraumboden versenken lassen. Wahre Zaubertricks schaffen auch die Ingenieure in Südkorea nicht. Ganz hinten fühlen sich nur Kinder oder kleine Menschen wohl.
Optional mit Drehsitzen
Optional kann man den EV9 auch als Sechssitzer ordern, dann werden in der zweiten Reihe Einzelsitze montiert. Entweder mit Relax-Funktion für Liegekomfort oder als Drehsitze. Sie lassen sich nicht nur zur Konferenzbestuhlung während der Fahrt nutzen, sondern für einfaches Ein- und Aussteigen oder die Montage eines Kindersitzes um 90 Grad nach außen drehen. Es darf vermutet werden, dass kaum ein EV9-Kunde sein Auto ohne diese smarte Option bestellt.
Vollfettstufe bietet das Elektro-SUV auch in Sachen Platzangebot vorne. Fahrer und Beifahrer thronen auf breiten Sesseln und freuen sich – wie die Gäste im Fond – über Heizung und Lüftung der Auflageflächen. Leider gibt es nur für den Fahrersitz eine Massagefunktion.
Drei Displays, viele Schalter
Schöne neue alte Welt im Cockpit: Auch im neuesten Kia bestimmen große Displays die Szenerie, alle Infotainment-Funktionen werden über den Touchscreen in der Mittelkonsole gesteuert. Links davon ist Platz für ein drittes Display, auf dem Klimafunktionen zu sehen und zu bedienen sind – deren Menü dann auf dem großen Monitor rechts fortgeführt werden. Das zusätzliche Klima-Display ist vom Fahrerplatz aus leider kaum zu sehen, da der Lenkradkranz die meisten Anzeigen überdeckt. Zudem wirken Ziffern und Symbole weniger hochauflösend als die hinter dem Lenkrad oder auf dem zentralen Touchscreen.
Den vielen Raum hat Kia auch für die Einbindung physischer Bedienelemente genutzt, das ist die schöne alte Welt. Für Temperatur und Luftstrom gibt es große Kippschalter, für die Audiolautstärke eine mittig platzierte Walze. Darüber zeigen sich, nach dem Start des Antriebs, illuminierte Symbole zur Ansteuerung von wichtigen Menüpunkten. Im Vierspeichenlenkrad gibt es richtige Knöpfe und Kippschalter, alles ist intuitiv bedienbar. Gut gelöst: Die einzelnen Fahrmodi, beim Allradmodell mit zwei Motoren auch mit zusätzlichen Terrain-Programmen, lassen sich über Tasten im Lenkrad auswählen.
In der GT-line bringt der Kia EV9 eine annähernd komplette Serienausstattung mit, die neben der gewohnt guten Anzeige der Bilder von Totwinkel-Kameras im Kombiinstrument auch ein Head-up-Display mit Anzeige in der Windschutzscheibe umfasst. Die Fahrassistenz umfasst neben und der erwähnten Totwinkelüberwachung auf einen Autobahnassistenten. Er hält nicht nur Abstand und Geschwindigkeit bis zum Abbremsen und erneuten Anfahren, sondern unterstützt auch Spurwechsel.
Unsere ersten Testfahrten mit dem Kia EV9 auf französischen Autobahnen erlauben nicht mehr als Tempo 130, laut Werksangaben sind maximal 200 km/h drin. In 5,3 Sekunden wuchtet der Bimotor-Antrieb mit einer kombinierten Leistung von 283 kW (385 PS) den über 2,5 Tonnen schweren Koreaner auf 100 km/h.
Drehmoment auch als Upgrade
700 Newtonmeter maximales Drehmoment haben die Programmierer für den Kia EV9 GT-Line vorgesehen – beim Grundmodell mit dem gleichen Antrieb (es gibt auch eine Heckmotor-Version mit 150 kW (204 PS)) sind es 600 Newtonmeter. Über ein kostenpflichtiges Online-Upgrade lassen sich aber auch da die 700 Nm freischalten.
Wie fühlt sich das an? Nicht ganz so dramatisch, wie es die nackten Zahlen vermuten lassen. Schließlich müssen Kraft und Leistung ja in Relation zum großen Wagen gesetzt werden. Beim kräftigen Tritt auf das Fahrpedal ist der EV9, zweifelsohne, fix unterwegs - der berüchtigte Tritt in den Rücken bleibt aber aus – gut so, denn im Alltag kann das nerven.
Die Autobahn liegt hinter uns, kurvige Bergstraßen winken vor der hohen Haube. Spätestens jetzt macht sich das Format des Kia EV9 bemerkbar. Mit Außenspiegeln ist er 2,30 Meter breit – an manchen Stellen zwischen Steilwand und Gegenverkehr muss man also solide peilen. Enge Kehren lassen zudem eine Hinterachslenkung vermissen. Mit ihr wäre der EV9 auch im Stadtverkehr deutlich wendiger. Die Fahrwerkstechnologie hält auch in anderen Dingen Respektabstand zur deutlich teureren Premium-Konkurrenz im Markt der Oberklasse-SUV.
Mit frequenzselektiven Dämpfern bietet der große Kia zwar für sich genommen einen guten Fahrkomfort (wenngleich mit den 21-Zöllern Querfugen und Wurzelaufbrüche stark spürbar sind), lässt aber für das volle Flausch-Erlebnis dann und wann die Vorzüge einer adaptiven Dämpferregelung oder gar eines Luftfahrwerks vermissen. Jammern auf hohem Niveau, nicht nur wegen der erhabenen Sitzposition.
Testverbrauch: 21,9 kWh / 100 km
Überraschend niedrig liegt der Stromverbrauch, zumindest nach Angaben des Bordcomputers. 21,9 kWh zeigt er für 100 Kilometer Strecke an, auf denen wir zügig über Land gedüst und auf der Autobahn gestromert sind – wenig im Stadtverkehr mit Ausnutzung der Rekuperationsstufen. Dieser Wert liegt knapp unter der WLTP-Angabe von 22,8 kWh / 100 km, mit der die 99,8 kWh Strom im Lithium-Ionen-Akku für eine Reichweite von 505 Kilometern sorgen sollen.
Die tatsächliche Reichweite im normalen Fahrbetrieb und die Performance am Schnelllader wird ein späterer Alltagstest klären. Dank der E-GMP-Plattform mit 800-Volt-Technologie sollen über den CCS-Anschluss bis zu 210 kW möglich sein. Der Ladezustand des Akkus kann, laut Werksangabe, in 24 Minuten von zehne auf 80 Prozent gehoben werden. Wechselstrom an der heimischen Wallbox oder eine öffentlichen Ladesäule wird dreiphasig mit maximal 11 kW gezogen. In knapp über neun Stunden soll die Batterie zu 100% gefüllt werden können. Schade, dass Kia keine 22-kW-Option anbietet. Wie vom EV6 bekannt bietet die Ausstattungsliste auch hier einen Adapter für V2L (Vehicle-to-Load). Externe Geräte bis hin zu anderen Elektroautos können mit einer Leistung von 3,6 kW mit Strom versorgt werden.
Ein Kia für 84.000 Euro
Das volle Verwöhnprogramm mit Platz, Komfort und kompletter Ausstattung gibt es beim Kia-Händler zu für die Marke ungewohnt hohen Preisen. Der Einstieg in die Baureihe mit dem Heckmotor-Basismodell beginnt bei 72.490 Euro. Als GT-line mit Allradantrieb und 283 kW startet der EV9 als Siebensitzer bei 82.380 Euro. Unser Testwagen bringt die blaue Matt-Lackierung als Option mit, die den Listenpreis auf 84.180 Euro hebt.
Das ist sehr viel Geld. Angesichts der angepeilten Konkurrenz wird der Kia EV9 aber, im richtigen Verhältnis, zum Schnäppchen. Tesla Model X, BMW iX oder Audi Q8 e-tron sind, wenn man sie ähnlich üppig ausstattet, deutlich jenseits der 100.000-Euro-Schwelle positioniert. Auch die kommende Siebensitzer-Konkurrenz in Form des VW ID.Buzz mit langem Radstand dürfte ab 2024 nicht günstiger zu haben sein.
Zur angepeilten Zielgruppe der Vertriebsstrategen dürften vor allem Freiberufler, Selbständige und Unternehmer zählen, die nach einem Plug-in Hybrid erstmal auf ein reines Elektroauto im Großformat umsteigen wollen. EV9 statt Volvo XC90 Recharge oder Audi Q7 Plug-in Hybrid also.
Wer bis 31. Dezember 2023 seine Auto-Entscheidung zugunsten des EV9 trifft, bekommt von Kia neben der ersten Inspektion (nach zwei Jahren oder 30.000 Kilometern) auch ein Stromguthaben in Höhe von 1.200 Euro geschenkt. Auch das ist ein hoher Geldbetrag, der in Relation zum Kaufpreis des Autos aber „nur“ das Tüpfelchen auf dem „i“ bedeutet.
Fazit
Ähnlich wie beim Schoko-Keks-Kuchen hat Kia in den EV9 alles hineingepackt, was geht. Angesichts des guten Fahrkomforts, der durchdachten Bedienstruktur und der kompletten Ausstattung macht der große Elektro-Koreaner satt, ohne für Völlegefühl zu sorgen. Zumindest dann, wenn man nicht ständig in engen Altstadtstraßen unterwegs ist oder abends vor dem Reiheneckhaus in die Normgarage hineinfahren möchte.
Ob er damit ein „heißes Teil“ ist, dürfte vor allem der persönliche Design-Geschmack entscheiden. Für das volle Premium-Programm fehlt dem EV9 ein Verstellfahrwerk, wenn man weiter träumen darf zudem eine Hinterachslenkung.
Technische Daten
Kia EV9 AED GT-line |
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Antrieb | Allradantrieb |
Max. Drehmoment | 700 Nm |
Getriebe | Eingang-Reduktionsgetriebe |
Systemleistung: kW / PS | 283 kW (385 PS) |
Batterie | 99,8 kWh Lithium-Ionen |
Maximale Ladeleistung Gleichstrom (DC) | 210 kW |
Maximale Ladeleistung Wechselstrom (AC) | 11 kW (dreiphasig) |
Beschleuningung 0-100 km/h | 5,3 Sekunden |
Höchstgeschwindigkeit | 200 km/h |
Norm-Verbrauch kWh / 100 km | 22,8 kWh (Reichweite 505 km) |
Realer Verbrauch im Testzeitraum kWh/100 km | 21,9 kWh (lt. Bordcomputer) |
Leergewicht | 2.723 kg |
Anhängelast (gebremst) | 2.500 kg, Stützlast 125 kg, Dachlast 100 kg |
Länge / Breite / Höhe | 5.015 / 1.980 / 1.780 mm |
Grundpreis | 82.380 Euro |
Testwagenpreis | 84.180 Euro |