Erste Fahrt im Polestar 2. Zum neuen Elektroauto gibt es auch ein Video-Review.
„Sag mal, ist das der neue Polar?“ Die Frage kommt vom Beifahrersitz eines entgegenkommenden VW Golf mit Schild auf dem Dach, gestellt von einem Fahrlehrer. Sein Schüler wartet brav, während ich freundlich korrigiere – schließlich begegnet er ja einem Polestar. Genauer gesagt dem Polestar 2, mit dem die neue Schwestermarke von Volvo nach dem limitierten Plug-in Hybrid Polestar 1 zum Marktaufschlag ausholt.
Der Polestar 2 im Video
Die Namensschwäche sei verziehen, denn ansonsten scheint das Interesse des Fahrlehrers, der ja in seiner Funktion auch durchaus als Multiplikator gelten darf (wer erinnert sich nicht an sein Fahrschulauto?), durchaus fortgeschritten zu sein. Dass es keine „normalen Händler“ geben wird, weiß er. Und fragt auch direkt nach der Website. Denn Polestar lässt seine Autos online bestellen, es wird eine limitierte Zahl von „Polestar Spaces“ geben, wo man die Autos ansehen und Probefahren können wird. Den Service übernehmen Volvo-Werkstätten.
Picard-Manöver, Flughöhe 0
Jetzt aber genug Influencing – der junge Mann hinter dem Golflenkrad will Fahren lernen und ich mich mit dem Polestar 2 vertraut machen. Also, tschüss dann! Der Polestar 2 basiert auf der CMA-Architektur, teilt sich den Unterbau mit dem Volvo XC40, Modellen der Marke Lynk & Co sowie dem Geely Xingyue. Alle Labels sind Teil des chinesischen Geely-Konzerns. Wie einige Volvo-Modelle werden auch die Fahrzeuge von Polestar in China gebaut. Anstelle des Transports per Zug über die „Neue Seidenstraße“ werden die Exportautos aktuell per Schiff zu uns gebracht – geschlossene Grenzen in Russland verzögern den umweltfreundlicheren Transport.
Ab August rollen die ersten Polestar 2 zu den Kunden, alle als First Edition komplett ausgestattet und mit ordentlich Power. Zwei Elektromotoren, einer pro Achse, bringen es im Peak auf 300 kW (408 PS) Systemleistung und ein maximales Drehmoment von 660 Nm. Die 4,7 Sekunden, die Polestar für den Sprint auf 100 km/h verspricht, glaubt man spätestens dann, wenn man nach einer Ortsausfahrt das Picard-Manöver (Leser ohne Star-Trek-Nerdwissen müssen jetzt googlen oder bingen) ausführt.
Warp 4 wird nicht erreicht, aber mit schwerem Fuß auf dem Fahrpedal schnalzt der über 2,1 Tonnen schwere Polestar 2 nach vorne, dass unaufmerksame Mitfahrer das räumlich kaum verarbeiten können. Typisch (kräftiges) Elektroauto, klar – aber immer noch beeindruckend.
Das gilt auch für das Ein-Pedal-Gefühl im Polestar 2. Über den omnipräsenten Touchscreen lässt sich diese Funktion in drei Stufen einstellen, außerdem kann man die Kriechfunktion des Eingang-Reduktionsgetriebes deaktivieren. Dann genügen wenige Meter, um die Sache mit dem rechten Fuß voll und ganz zu verinnerlichen. Egal, ob Haltelinien an Ampeln oder Grundstücksausfahrten. Mit dem leichten Lupfen des Pedals regelt man die Verzögerung des E-Antriebs bis zum zentimetergenauen Stillstand. Dann muss man nicht einmal die Bremse treten, weil das Getriebe in dieser Einstellung ja ebenfalls für Stillstand sorgt.
Android Automotive als Betriebssystem
Es ist fast schade um die Brembo-Bremsen, sie sich – immerhin mit goldenen Sätteln geschmückt – hinter den 20-Zoll-Leichtmetallfelgen langweilen. Beides ist Teil des optionalen Performance-Pakets. Dazu gehören auch einstellbare Öhlins-Dämpfer an beiden Achsen. Sie lassen sich manuell verstellen, dazu muss aber zumindest an der Hinterachse das Auto aufgebockt werden. Das wirkt erst einmal gestrig – ob man damit zurechtkommt, muss ein späterer Test klären.
Auf Anhieb kommt man mit der Bedienung im Polestar 2 zurecht. Als Betriebssystem wird Android Automotive genutzt. Alle Funktionen laufen also über die Server des Tech-Riesen. Google Maps sorgt für eine auf Echtzeitverkehrsdaten basierende Routenführung, zeigt dabei auch den Batterieladezustand am Ziel und auf Wunsch mögliche Ladepunkte an. Außerdem lassen sich über den Play Store Apps zum Music-Streaming laden, die Sprachsteuerung mit dem Google Assistant hört auf den Befehl „Hey, Google“.
Zur Umsetzung eines Sprachkommandos benötigt das System, wohl je nach Stärke des Mobilfunknetztes, manchmal eine Gedenksekunde, kann dann aber auch Fahrzeugfunktionen steuern. „Mir ist warm“ regelt aber nicht die Temperatureinstellung der Klimaautomatik, sondern es kommt als Antwort: „Du solltest schwimmen gehen.“ Dennoch gibt es, als Steigerung der humoristischen Interaktion zwischen Mensch und Maschine auch Rückmeldung auf den Befehl „Hey Google, erzähle mir einen Witz“ – inklusive lachendem Publikum im Playback.
Die Menüstruktur des Hochkant-Touchscreens ist simpel, es gibt logische Kapitel (Kamera, Auto, Menü, Profil) und selbsterklärende Anzeigen. Hinter dem stark an Volvo erinnernden Lenkrad versammeln sich fahrrelevante Informationen auf einem digitalen Kombiinstrument. Auch hier kann man sich die Navigationskarte während der Routenführung anzeigen lassen.
Veganes Interieur serienmäßig
Fahrer und Beifahrer nehmen auf bequemen Sitzen Platz. Auch die serienmäßige Innenausstattung gefällt. Sie ist vegan, verzichtet vollständig auf Leder. Der synthetische Stoff wirkt langlebig und heizt im Sommer nicht stark auf. Im Armaturenbrett präsentiert sich eine Dekorleiste aus Stoff, dazu gibt es Holz-Imitat. Wer es weniger nachhaltig will, bekommt optional Leder und Holzdekor.
Vorne also alles gut – hinten jedoch nicht. Der Polestar 2 ist im Fond deutlich enger als sein Plattformbruder Volvo XC40 . Zumindest als großer Mensch kauert man auf einer zu flachen Rücksitzbank. Die Knie passen nicht hinter, die Füße nicht unter den Vordersitz. Das verwundert umso mehr, weil die 78 kWh große Lithium-Ionen-Batterie in Paketen verteilt wurde, um „Fußgaragen“ zu schaffen. Ein großes Batteriepaket im Fahrzeugboden sorgt oft für einen hohen Boden.
Das kostet der Polestar 2
Ab 56.440,34 Euro kostet der Polestar 2, bevor man die Umweltprämie abzieht. Dafür bekommt man ein gut verarbeitetes Auto mit hervorragendem Elektroantrieb. Auch die Inspektionen in den ersten drei Jahren sind damit abgegolten. Das Märchen vom servicefreien Elektroauto wird also nicht erzählt.
Wie weit man im Alltag an den WLTP-Normverbrauch von 19,3 kWh / 100 km herankommt, klären wir zu einem späteren Zeitpunkt. Dann dürfte auch Apple CarPlay verfügbar sein, dass aktuell wohl noch nicht mit Android Automotive kompatibel ist.
Fazit zum Polestar 2
Die optische und konstruktive Nähe zu Volvo (der Vorbote für den Polestar 2 war das Concept Car Volvo 40.2) stört keineswegs – gerade deshalb schlägt der 2er eine stabile Brücke aus schon vertrautem Image und automobilem Neuland. Der Preis ist im Vergleich zum Tesla Model 3 und anderen Wettbewerbern fair. Kritikpunkte sind der knappe Fond und die überschaubare Garantie von zwei Jahren auf das Gesamtfahrzeug.
Wer jetzt bestellt, soll seinen Polestar noch vor Ende 2020 erhalten. Dass mindestens einer dann zum Fahrschulauto umgebaut wird, ist nach unserer Begegnung wahrscheinlich.
Technische Daten
Polestar 2 |
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Elektromotor vorn: Maximale Leistung kW | 150 kW (204 PS) |
Elektromotor vorn: Maximales Drehmoment | 330 Nm |
Elektromotor hinten: Maximale Leistung kW | 150 kW (204 PS) |
Elektromotor hinten: Maximales Drehmoment | 330 Nm |
Systemleistung: kW / PS | 300 kW (408 PS), 660 Nm |
Batterie | 78 kWh, Lithium-Ionen |
Beschleuningung 0-100 km/h | 4,7 Sekunden |
Höchstgeschwindigkeit | 205 km/h |
Norm-Verbrauch kWh / 100 km | 19,3 kWh |
Realer Verbrauch im Testzeitraum kWh/100 km | 21,4 kWh (lt. Bordcomputer) |
Reifenmarke und –format des Testwagens | 245/40 R20 |
Leergewicht | 2.123 kg |
Anhängelast (gebremst) | 1.500 kg |
Länge / Breite / Höhe | 4.606 / 1.473 / 1.985 mm |
Grundpreis | 56.440,34 Euro |
Testwagenpreis | 64.336,34 Euro |