Der neue Volvo ES90 im ersten Fahrbericht mit Video-Review.
Gleich schneiden wir die alten Zöpfe ab, aber vorher darf die Vergangenheit nochmal kurz ins Rampenlicht treten. Die einstige Kombi-Marke Volvo hat sich gewandelt. Während man vor Jahrzehnten Lehrer, Professoren und Freigeister im 240, 740/760 oder 850 mit maximalem Steilheck verortete, sind es heute Firmenwagenfahrer unterschiedlichster Branchen, die (oder deren Arbeitgeber) einen Leasingvertrag für ein SUV unterschrieben haben – meist steht XC60 am Heck. Allen Strömungen des Zeitgeistes zum Trotz: Die „Schwedigkeit“ ist Volvo geblieben, auch wenn die Marke mittlerweile Teil des chinesischen Geely-Konzerns ist.
Limousine mit großer Klappe
Das bringt auch die Einbettung von Volvo in das globale Produktions-Netzwerk der Mutter mit sich. Der neue ES90 läuft im chinesischen Chengdu vom Band und wird von dort auch nach Europa exportiert. Er ist der erste reine Elektro-Volvo der Neuzeit (den C30 als Kleinserie ausgenommen), der ohne SUV-Form kommt. Nun ja, fast. Anstelle einer klassischen Limousine bringen die Schweden in der automobilen Business Class eine Art Fließheck-Crossover mit leicht erhöhter Bodenfreiheit (18 Zentimeter) und kurzer Stufe am Heck. Trotz einer üppigen Länge von fünf Metern lässt sich die Höhe von 1,55 Metern damit nur ansatzweise kaschieren. Der Akku im Fahrzeugboden braucht Platz – das kennt man auch vom sechs Zentimeter längeren Wettbewerber BMW 5er / i5.
Das Design des Volvo ES90 mit der geschlossenen Front, den Scheinwerfern mit LED-Segmenten in Hammer-Optik und klaren Linien wirkt modern und sorgt für eine gediegene Präsenz des Autos auf der Straße. Fast schon verwegen wirkt da die dezente Extravaganz am Heck. An den Seiten der Scheibe zitieren vertikal angeordnete Lichtelemente den kompakten EX30. Als Teil des Abblend- oder Bremslichts dürfen sie jedoch, aufgrund von Zulassungsbestimmungen, nicht dauerhaft arbeiten.
Unter der großen, elektrisch betriebenen Heckklappe, steht ein mit 424 Litern Volumen nicht sonderlich großer Kofferraum bereit. Für Variabilität sorgt eine dreigeteilt im Verhältnis 40:20:40 vorklappbare Rücksitzlehne. Ladekabel und Kleinkram findet im 27 Liter großen Fach unter der vorderen Haube zusätzlichen Platz.
Digitalisierte Bedienung

Der Radstand von 3,10 Metern sorgt für eine üppige Kniefreiheit im Fond. Leider ist die Sitzfläche recht flach über dem Innenboden, sodass man als großer Mensch die Beine über Gebühr anwinkeln muss. Trotz Heizung und Lüftung auch im Fond (letztere optional) empfiehlt sich der Volvo ES90 somit nicht uneingeschränkt als Reiseauto. Deutlich besser sitzt man vorne. Dank elektrischer Einstellung und ausziehbarer Oberschenkelauflage findet man schnell eine ergonomisch gute Sitzposition. Die Position der Lenksäule und der Außenspiegel muss jedoch über den zentralen Touchscreen aktiviert und dann über Bedienelemente im Lenkrad justiert werden. Auch der neue ES90 folgt also dem Pfad der Reduktion bei Bedienelementen im Innenraum, bis hin zum Umschalter in der Fahrertür für die Bedienung der hinteren Fensterheber. Immerhin: Unter dem Monitor in der Mittelkonsole erlaubt eine Walze die Änderung der Audiolautstärke, Tasten daneben das Vor- und Zurückspulen.
Kalt und distanziert wirkt die Innenraumwelt im Volvo ES90 aber auch ohne Knöpfe und Schalter nicht, im Gegenteil. Die Schweden haben es verstanden, mit hochwertigen Materialien und guter Verarbeitung für Wohnlichkeit zu sorgen. Den in Kurven leicht knarzenden Fahrersitz unseres Testwagens schreiben wir mal dem frühen Produktionszeitraum des Autos zu.
Drei Antriebsvarianten bietet Volvo für den ES90 an. Mit zwei Motoren und Allradantrieb kann man aus kombinierten Leistungen von 335 W (456 PS) oder 500 kW (680 PS) wählen. Der Lithium-Ionen-Akku hat in beiden Fällen eine Speicherkapazität von 106 kWh, von denen 102 kWh netto nutzbar sind. Die Reichweite liegt bei bis zu 700 Kilometern.
Das Grundmodell hat einen Elektromotor an der Hinterachse mit 245 kW (333 PS) und 92 kWh (netto 88 kWh) Akku-Kapazität. In jedem Volvo ES90 sorgt 800-Volt-Technologie für schnelles Laden. Bis zu 350 kW bei den Twin-Motor-Versionen, bis zu 310 kW beim Hecktriebler. Über den Typ-2-Stecker fließt Strom an der Wallbox oder an einer öffentlichen Ladesäule dreiphasig mit 11 kW. Einen schnellen 22-kW-Lader gibt es auch gegen Aufpreis nicht.
Der Fahreindruck

Für unsere ersten Testfahrten mit dem Volvo ES90 in Südfrankreich steht der Volvo ES90 Single Motor bereit. Auch er hat mit 480 Newtonmetern Drehmoment stets mehr als genug Kraft. Auf engen Kurvenstraßen in den Bergen über Nizza und Monaco ist nicht nur die Größe des Autos spürbar, sondern auch das hohe Leergewicht von rund 2,5 Tonnen.
Das im höchsten Ausstattungs-Niveau Ultra serienmäßige Fahrwerk mit Luftfederung erlaubt eine zweistufige Dämpfereinstellung. Zum Charakter des Autos passt die komfortbetonte Konfiguration besser – die optionalen 22-Zoll-Felgen sorgen aber auch dann für ein teils trockenes Durchreichen von Querfugen und Kanten im Asphalt. Die serienmäßigen 21-Zöller dürften sich mutmaßlich als komfortablere Alternative erweisen.
Auch die Lenkung kann man in einstellen. Auch das Programm für mehr Rückmeldung lässt aber gerade diese noch vermissen. Zudem kurbelt man stets eifrig am etwas zu großen Lenkrad, um die Richtung zu wechseln. Besser passen dem Volvo ES90 gerade Landstraßen und Ausflüge auf der Autobahn. Mit einem Zug am rechten Lenkstockhebel wird das „Pilot Assist“ genannte Assistenzprogramm aktiviert. Dann hält der Volvo ES90 zuverlässig den Abstand zum Vordermann und meist auch das Tempo – wenn die Verkehrszeichenerkennung nicht phantasiert und Tempo 70 auf der Autobahn vorschreiben möchte. Auf unseren Testrouten lag die Beschränkung meist bei 110 km/h – da störte es (im Gegensatz zu Deutschland) nicht, dass Pilot Assist nur bis zu einer Geschwindigkeit von 150 km/h arbeitet. Wie alle modernen Volvos wird auch der Vorwärtsdrang des ES90, unabhängig von der Motorvariante, bei 180 Sachen elektronisch begrenzt.
Auf allen Wegen fällt die Ruhe im Innenraum auf. Wind- und Antriebsgeräusche sind nicht zu hören, auch ein Verdienst der Akustikverglasung der Ultra-Version. Die großen Räder lassen, je nach Untergrund, mal Abrollgeräusche vernehmen – auch für diese Disziplin sollten wir einen späteren Test mit kleineren Felgen planen.
Premium, auch beim Preis

Volvo bietet den ES90 in den oben genannten drei Antriebsvarianten an, zudem kann man aus den, von der Marke bekannten, Ausstattungslinien Core, Plus und Ultra wählen. Zumindest beim ES90 Single Motor, die Allrad-Varianten gibt es aktuell ausschließlich als Ultra.
Bei 71.990 Euro beginnt die Preisliste des im chinesischen Chengdu gebauten Schweden in Form des Volvo ES90 Core. Zur Serienausstattungs zählen u.a. 20-Zoll-Felgen, eine Vierzonen-Klimaautomatik, elektrisch verstellbare Vordersitze mit Fahrerplatz-Memory, ein festes Panorama-Glasdach und das Audio-System mit 325 Watt. Als Schlüssel dient das Smartphone des Nutzers mit einer entsprechenden App, als Back-up gibt es eine NFC-Karte (Near Field Communication).
Damit ist der große Elektro-Volvo, trotz der umfangreichen Serienausstattung, selbstbewusst kalkuliert. Der BMW i5 mit 250 kW (340 PS) starkem Heckmotor startet bei 71.200 Euro, der Audi A6 e-tron mit 240 kW (326 PS) bei 62.800 Euro.
Unser Testwagen in der Ultra-Ausstattung kostet ab 83.990 Euro in der Konfiguration dieses Exemplars, u.a. mit Optionen für Optik (Metalliclackierung, 22-Zoll-Felgen), Sicherheit (Fahrassistenz-Paket) und Luxus (Bowers & Wilkins – Soundsystem mit 1.610 Watt) stolze 92.150 Euro. Immerhin: Solvente Firmenwagenfahrer können auch hier vom reduzierten Satz bei der Versteuerung des geldwerten Vorteils profitieren, da die Grenze dafür von der Bundesregierung auf 100.000 Euro Brutto-Listenpreis angehoben wurde.
Fazit

Ein elegantes und dennoch teilweise eigenwilliges Design, Wohnlichkeit im reduzierten Innenraum und hohe Qualität. Der neue ES90 folgt voll und ganz den Volvo-Werten. Auch als Single-Motor-Version bietet die Oberklasse-Limousine mehr als ausreichende Leistungsreserven. Der Fahrkomfort wird durch die etwas taube Lenkung und die optionalen 22-Zoll-Felgen getrübten getrübt. Die Räder muss man nicht bestellen, bei der Lenkung freut man sich auf eine Modellpflege.
Wie sparsam der große Volvo im Alltag ist und ob er sein Ladeversprechen mit über 300 kW Leistung stets zuverlässig einlösen kann, muss ein späterer Test klären. Die Preise sind, trotz einer üppigen Serienausstattung schon im Basismodell, gewohnt selbstbewusst.
Technische Daten
Volvo ES90 Single Motor Extended Range
- Antriebsart
- Elektro
- Antrieb
- Heckantrieb
- Getriebe
- Eingang-Reduktionsgetriebe
- Elektromotor: Maximale Leistung kW
- 245 kW (333 PS)
- Elektromotor: Maximales Drehmoment
- 480 Nm
- Batterie
- 92 kWh (88 kWh netto nutzbar)
- Batterie: Typ
- NMC (Nickel-Mangan-Kobalt)
- Maximale Ladeleistung Gleichstrom (DC)
- 310 kW
- Maximale Ladeleistung Wechselstrom (AC)
- 11 kW (dreiphasig)
- Beschleunigung 0-100 km/h
- 6,6 Sekunden
- Höchstgeschwindigkeit
- 180 km/h
- Norm-Verbrauch kWh / 100 km
- 15,9 - 18,5 kWh
- Reichweite nach Norm
- 554 - 651 Kilometer
- Realer Verbrauch im Testzeitraum kWh/100 km
- 23,8 kWh (lt.Bordcomputer)
- Kofferraumvolumen
- 424 - 1.427 Liter + 27 Liter vorne
- Leergewicht
- 2.410 kg
- Anhängelast (gebremst)
- 1.600 kg
- Stützlast
- 100 kg
- Dachlast
- 75 kg
- Länge / Breite / Höhe
- 5.000 / 1.942 / 1.546 mm
- Basispreis Baureihe
- 71.990 Euro
- Testwagenpreis
- 92.150 Euro