Einen derart gut erhaltenen Scorpio der ersten Baureihe findet man im Internet leider nicht ...
Trotz aller neuen Nischen und Kreuzüberpaarungen erscheint die Automobilwelt manchmal heute doch sehr uniformiert. Einer macht etwas, es wird erfolgreich, alle rennen hinterher. Scheinbar vorbei sind die Zeiten, in denen neue Autos wirklich überraschten, natürlich auch mit allem Risiko des Misserfolges. Nicht mal Citroen schwimmt heute noch so sehr gegen den Strom wie zu Zeiten von CX und XM.
Nicht minder kreativ in Sachen Fließhecklimousinen waren in den 1970er und 1980er Jahren die Entwicklungsingenieure bei Ford. Erst schlug man der konservativen Taunus-Kundschaft 1982 mit dem aerodynamisch geglätteten Sierra in den Nacken, dann präsentierte man auf dem Genfer Salon 1985 die neue große Baureihe.
Der Nachfolger des Granada sollte alles anders machen. Um das zu untermauern, wurde auch die interne Entwicklungsbezeichnung als Modellname übernommen: Aus Granada wurde Scorpio, nur die Briten fuhren auch das neue Modell weiter als Granada – hier stellte die Scorpio-Variante die Luxusversion dar. Eine letzte Anekdote: Beim Sierra wurde gottseidank ein neuer Name gesucht, sein Entwicklungscode war nämlich „Toni“.
Da drehte sich also nun im März 1985 der Ford Scorpio auf dem Messestand und sorgte für offene Münder. Die einen staunten, den anderen stockte der Atem. Aus den beiden Granada-Versionen Limousine und Turnier machte Ford ein Angebot, brachte den Scorpio als Schrägheck, was im Prospekt „Aero-Heck“ genannt wurde und schon damals der konservativen Kundschaft in der oberen Mittelklasse schlecht zu vermitteln war. Ganze fünf Jahre dauerte es, bis Ford ein Stufeheckmodell nachschob, weitere zwei bis zum Kombi Turnier.
Innovativ und anders war nicht nur das futuristische Karosseriekleid des Scorpio. Er war das erste Auto mit serienmäßigem ABS, ein Pionier für die aktive Sicherheit aller modernen Fahrzeuge. Und auch für den Kältekomfort, denn auch die beheizbare Windschutzscheibe feierte im großen Ford ihre Weltpremiere. Heute werden über 90% der großen Ford (Mondeo, S-Max, Galaxy) damit ausgeliefert, sogar beim Fiesta ist es jeder zweite.
Das Topmodell des Scorpio war der 2,8i Ghia. Die Luxusversion, benannt nach dem berühmten italienischen Designstudio, glänzte mit Kaschmir-Velours-Bezügen, Nebelscheinwerfern, breiten Kunststoffplanken außen und extravagantem wie elektrisch verstellbaren Rücksitzlehnen. Der 2,8 Liter V6-Motor produzierte katalysatorlose 150 PS.
Genau dieses Modell steht vor mir. Erstzulassung war am 13. Mai 1985, also eine der ersten Auslieferungen. Die dunkelblaue Karosserie präsentiert sich in der Herbstsonne im makellosen Zustand und weckt eine Vielzahl von Kindheitserinnerungen – waren es doch Ford Scorpios (erst das Fließheck, dann als Stufenheck), in denen ich damals auf langen Urlaubsfahrten Stunde um Stunde mit den Schwestern auf der Rücksitzbank verbracht habe. Und das sehr kommod. Eine dieser Erinnerungen ist nämlich das üppige Platzangebot im Fond. Also öffne ich die Tür, entdecke zuvor aber noch das einzige nicht originale Detail am Scorpio aus dem Fundus der Ford-Klassikabteilung: Das Ghia-Emblem trug der damals nicht an der Fondtür, sondern als Schriftzug an den vorderen Kotflügeln. Auf der Rücksitzbank reift die Erkenntnis, dass mich mein Langzeitgedächtnis nicht belogen hat. Trotz Heckantrieb und längs eingebautem Motor herrschen hier Platzverhältnisse wie im aktuellen Skoda Superb – also üppiger als im neuen Ford Mondeo.
Jetzt will ich aber fahren. Der butterweiche Fahrersitz mit dem für damalige Ford typischen Blasebalg für die Lendenwirbelstütze ist flugs eingestellt. Nur das Lenkrad mag sich nicht mehr in der Weite verstellen lassen, egal. Mit weit ausgestreckten Armen umfasse ich das dünne Zweispeichenvolant und stopfe den scharfkantigen Zündschlüssel ins Schloss. Der Sechszylinder erwacht und plärrt ein herrliches Orchester mit dem Titel „Autos waren früher eben so laut“.
Vom Geräuschniveau mal abgesehen fährt sich der 30 Sommer zählende Scorpio auf Jahreswagenniveau. Das Fahrwerk schaukelt Unebenheiten und Bodenwellen genüsslich weg und die Viergangautomatik verrichtet brav ihre Arbeit. Der analoge Kilometerzähler ist dagegen schon in Rente. Bei 114.147 km hat er den Dienst quittiert, wie viele noch hinzukamen, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Interessanterweise hat die Digitalanzeige des Bordcomputers länger durchgehalten. So kann sie auch heute noch, trotz gemütlicher Fahrweise über Land, entspannter Entschleunigung bei Ortsdurchfahrten und ohne Hektik im Fahrstil, mit einem Durchschnittsverbrauch von 14,3 Litern auf 100 km. Hier sieht man also auch den automobilen Fortschritt moderner Motoren.
Egal, der Scorpio macht trotzdem einen Heidenspaß. Die großen Fenster ermöglichen eine sehr gute Übersicht und nach einigen Kilometern verschmelze ich mit dem alten Auto zu einer Symbiose, die man nur schwer wird trennen können. Der Innenraum bettet mich in grau-braunes Velours, zusammen mit dem braunen Armaturenbrett eine Farbwelt, die auch heute durchaus wieder modern ist. Das Armaturenbrett des Scorpio war und ist so bizarr wie es die Schrägheckkarosserie damals war. Die breite Ablage vor dem Beifahrer ist eigentlich keine, trotz genoppter Gummimatte fliegt alles dort in der kleinsten Kurve quer durchs Auto. Die Bedienelemente für Klimaanlage und den Bordcomputer gruppieren sich um die Instrumente. Eine Etage tiefer sitzt das originale Ford Radio „2006“ mit Kassettendeck, darunter der Euqalizer – damals galt Ford als Instanz für Autoradios.
Ich stelle den Motor ab und steige aus. Ein letzter Gang ums Auto und das Sehzentrum im Gehirn saugt das Design auf, sortiert Bilder und Details für das Gedächtnis, aber alles landet irgendwie im limbischen System (bevor Sie googlen müssen: Dies ist der Bereich im Gehirn für die Emotionen). Die schlichten Alufelgen (damals selbst beim Ghia optional), das lange und dürre Auspuffrohr (selbst beim 2,8i V6) und die zu breiten Scheinwerfer vorne – der Scorpio wirkt heute kaum weniger modern als damals, K FK 78 H zeigt aber mit seinem Kennzeichen, dass auch dieses Auto mittlerweile ein Youngtimer geworden ist.
Nach insgesamt vier mehr oder weniger dramatischen Überarbeitungen lief der letzte Scorpio, mittlerweile zum bizarren Designklumpen mutiert, 1998 vom Band. Und mit ihm die Idee des großen Ford – zumindest bis ins Jahr 2006 als ein Nachfolger im Geiste entstand, der kürzlich frisch aufgelegt wurde und hier von mir gefahren werden konnte .
Machs gut, alter Scorpio – ich habe das Gefühl, einer Deiner Brüder steht irgendwann einmal in meiner Garage. Nur finden muss ich ihn.