Der automobile Größenwahn der 80er gipfelte im W140.
Wir schreiben das Jahr 1991. Helmut Kohl wird im gerade wiedervereinigten Deutschland zum dritten Mal in Folge zum Bundeskanzler gewählt. In Stuttgart wird ein weiteres Schwergewicht mit Ambitionen zur Macht ins Rampenlicht geschoben, in diesem Fall geht es um die Vorherrschaft in der automobilen Oberklasse.
Auf dem Genfer Autosalon feiert sich die neue S-Klasse, während Publikum und Fachpresse eher verdutzt dreinschauen. Nach dem ranken und schlanken Vorgänger der Baureihe W126 markiert der W140 die blechgewordene Vollfettstufe. Über fünf Meter Länge, über zwei Tonnen Gewicht und auch optisch alles andere als dezent polarisiert die neue S-Klasse. Bis in die Nachrichtenmagazine schafft es die Kritik am großen Benz, da jemand wohl gemerkt hatte, dass die breite Limousine leider nicht auf die Bahn-Autoreisezüge nach Sylt passte. Nun denn, mit einem S fährt man doch eh lieber selber, als im Bahnabteil seinem Gegenüber beim Schmatzen und Bröseln zuzusehen.
W140 hätte eigentlich schon 1989 auf den Markt kommen sollen, doch dann zeigten die Japaner von Toyota mit dem LS 400 in eben diesem Jahr das erste Modell ihres neuen Luxuslabels Lexus. Der war in Sachen Finish und Anfassqualität schlagartig die neue Benchmark, woraufhin sich die Mercedes-Ingenieure nochmals über ein Jahr in den Entwicklungsbüros verkrochen.
Die neue S-Klasse sollte in jeder Hinsicht das Nonplusultra im Automobilbau markieren. Als Topmodell war sogar ein 800 SEL mit V16-Motor und 540 PS fertig entwickelt, der dann aber aufgrund der massiven Kritik von Presse und Kunden nicht auf den Markt gebracht wurde.
Der Diesel war in der Oberklasse noch ein Fremdkörper, kurz nach dem Marktstart gab es aber auch die S-Klasse als Turbodiesel mit sage und schreibe 150 PS. Etwas stärker war der Basisbenziner zur Markteinführung, der 300 SE mit 231 PS (später kam noch der 300 SE 2.8 / ab 1992 280 SE mit 193 PS hinzu). Genau dieses Modell konnte ich genießen. Das mausgraue Auge mit den stilsicher-unaufgeregten Alufelgen mit „Kanaldeckel-Design“ steht auch heute noch erhaben und in sich ruhend auf dem Parkplatz, die streng geometrischen Linien sind im Zeitalter der Sicken und Furchen eine Beruhigung für das Auge.
Dieser 300 SE ist laut Fahrzeugschein am 4. Februar 1991 das erste Mal zugelassen worden. Es muss sich daher um eines der ersten Exemplare gehandelt haben, da die Modellreihe ja erst im Sommer 1991 im Markt eingeführt wurde. Die Erstzulassung war in Belgien, seit 2010 ist das Auto in Deutschland.
Innen empfängt uns der Chef-Benz mit extrem weichen Ledersesseln, die heute jeden Dynamikwahn widersprechen würden. Bezogen sind die Sitze mit hellgrauem Leder, das sehr angenehm mit der Außenfarbe harmoniert. Die Tierhaut ziert auch die Türverkleidung, hier aufwendig vernäht und geriffelt. Die Materialgüte und Verarbeitungsqualität überrascht auch heute noch. In der Türverkleidung, aber auch im Handschuhfach verbergen sich weitere Ablagen unter Klappen, alles ist komplett mit Teppich verkleidet.
Wenn man auf das Kofferraum drückt, um diesen zu öffnen, fährt über dem Kennzeichen ein verchromter Griff heraus. Nach dem Schließen des Deckels zieht sich der Griff wieder in die Karosserie zurück. Ein dekadentes Gimmick gegen schmutzige Finger. Da die akustische Einparkhilfe noch nicht erfunden war (die kam erst 1995, auch im W140), aber im massiven Auto genug Platz war, wurden Peilstäbe eingebaut. Beim Einlegen des Rückwärtsgangs fahren links und rechts am Heck zwei ca. acht Zentimeter lange Metallstäbe heraus, um dem Fahrer das Ende des Autos zu zeigen. Das funktioniert auch heute, fast 25 Jahre nach der Erstzulassung, noch problemlos.
Wie alles am 300 SE. Stolze 261.000 Kilometer stehen auf dem analogen Kilometerzähler, der Motor läuft aber wie am oft zitierten Schnürchen. Im Turbogeladenen Hier und Jetzt brauchst Du als Fahrer erst einen Moment, Dich wieder an die Charakteristik eines Saugmotors zu gewöhnen, aber das ist schnell erledigt. Die Fünfstufenautomatik lässt sich von „Eco“ auf Sport“ umschalten, dann haut der 300 SE echt ziemlich gut ab. Dabei stören keinerlei Geräusch aus dem Innenraum oder dem Fahrwerk das Ohr, das Auto ist extrem leise (auch ein Verdienst der doppelten Seitenverglasung) und zieht störrisch seine Bahn. Ein agiler Richtungswechsel ist eh nicht unbedingt die Sache der Lenkung, die in der Mittellage viel Spiel hat – eben so viel, dass der Panzer ruhig geradeausfährt und nicht hektisch wedelt. Getreu dem Motto: Der S-Klasse wird Platz gemacht, Slalom muss man damit nicht fahren. Ein solches Racing-Manöver würde eh den Körperkontakt mit dem Beifahrer extrem verstärken, die Sitze sind nämlich nicht nur weich, sondern haben auch den Lehrgang „Seitenhalt für Anfänger“ komplett sausen lassen. Hinten ist der Platz okay, aber aus heutiger Sicht keinesfalls überschwänglich vorhanden – hier sieht man, wie sehr die Autos über die Jahre gewachsen sind.
Damals war der W140 aber einfach zu groß, zu protzig, zu selbstherrlich. Wären die asiatischen Märkte Anfang der 90er schon so offen gewesen wie heute, die Leute dort hätten Mercedes die S-Klasse aus den Fingern gerissen, wie heute die Maybach-Langversion. Die leider gefloppte erste Reinkarnation des Maybach-Namens basierte übrigens bis 2011 auf dem W140. Die Baureihe selbst lief 1998 aus, um dem wesentlich schlankeren Nachfolger W220 Platz zu machen – den sieht man heute leider nur noch selten und dann gerne vom Rost zerfressen. Ein solider W140 macht auf jeden Fall auch heute noch was her, in der Zeit, in der die aktuelle S-Klasse auf wieder eben dieses Maß gewachsen ist.
Der Besitzer des Probefahrtwagens würde ich übrigens für ca. 5.900 Euro (Verhandlungsbasis) aus Platz- und Zeitgründen von seinem 300 SE trennen. Sollte jemand Interesse haben, stelle ich (Email im Impressum) gerne den Kontakt her.